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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

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Nr. 256 - 280 (2. November 1903 - 30. November 1903)
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TMMg, 19. Nsvember 1993. ZWeires BlE. 4ä. MWg. 271.

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« brsttmmtr» Tagen wird kei«e Nerantwortlichkrit ädernommr« — Naschlag der Jnserate <ms den Plackattafet» der Heidelderger Aettun, mch den städttschen Anfchlagstellen. Kernsprechrr M.

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Aus Deutsch-Südwest-Afrika.

Ueber bie Ermordung des Farmers Paasch
der anderen Teutschen im Norden von Deutsch-
^üdwestafrika enthält.ein der „Köln. Volksztg." zu-
öegangener Bericht folgende Einzelheiten: Nach einer
8laubhasten Schilderung dieser Vorgänge. die Libebe, der
Häuptling der östli-chen Werft im Stromgebiet des Oka-
^ango, gab. zog der Farmer Paasch nebst Frau, einem er-
^achsenen Sohn, zwei erwachsenen Töchtern, sowie zwei
^nkelkindern nnd sä.mtlichem Vieh nach dein N y a ni i s e e.
l^ogen ausgebrochener Lungenseuche in seiner Herde wurde
chrn von der englischen Regierung das Betreten des eng-
"schen Gebietes untersagt. Deshalb kehrte er
demsekben Wege, den er gekommen war, um. Vorher
Mtte er Nanganas Werft gegenüber seinen Karren stehen
chsfen. Diesen sand Paasch nach seiner Rückkehr teilweise
^lnes Jnhalts beraubt. Als seine Vorstellungen nichts
üuchteten, machte er unvorsichtigerweise Gebrauch von sei-
Waffe und wurde nun auch beschossen. Mit einem
^treifschutz im Rücken sloh der Bedrängte mit den Seinen
o.is in die Nähe der Werft Bambagandas. Hier setzten
die Reibereien fort. Eingeborene, die ihm gefolgt
^oren, griffen im Nerein mit Bambagandas Leutcn ihn
der ergraute Mann wehrte sich mit dem Alute der
^brzweiflung, schoß sechs Eingeborene nieder, er°
s>>elt aber dann selbst den tötlichen Schutz. Seine Frau,
!^sn Sohn sowie seine Tochter müssen desglsichen hier
chren Tod gefunden haben. Ueber den Verbleib der einen
"^wchter sowie der beiden Kinder war nichts Bestimmtes
bu ermitteln. Die Leute, die zur Rede gestellt wurden,
^uchton aus der Ermordung des Paasch keinen Hehl.
^nasch habe ohne Veranlassung von seiner Schußwaffe
^ebrauch gemacht; sie hätten lediglich in der Notwehr ge-
handelt. Die Leiche des Farmers wollte'n sie verbrannt,
hch Ueberrests der andersn den Wellen des Flusses preis-
8egeben haben. Die deutsche Expedition wurde von den
^Mgeborenen, die den Paasch ermordet hatten, freund-
uch aufgenommen. Der Gewährsmann der „Köln. Volks-
?Eitung" schreibt darüber: „Gleich anfangs siach mir die
>.°nderbare Tracht vieler der im Kreise um uns herum-
hockenden Schwarzen auf. Da satz einer in einem
v a u e n, h e m d, ein zweiter trug eine Nachthaube,
I°in Nachbar eine Bluse usw. Alles Sachen aus dem B e-
iitztum der Ermordete'n. Verschiedene Kerle
hatten eine Menge Pfnndstücke, 20 Markstücke, das B a r-
^ ° rmögender Getöteten. 1000 Mark zählte ich. Ohne
lede Uhnung Vezüglich des Wertes des Geldes bot mir
üner 140 Mark für ein halb Meter Kattun! Selbstredend
^ollte ich mit dem Sündcngeld nichts gcmein haben."

Von den Leuten Bambagandas erfuhr die Expedition
Mch die Ermordung drei weiterer Weißen
Nampadi, den wir Vereits ahnungslos besucht hatten.
. ^ handelt stch um einen gewissen Arndt sowie um zwei
i°gen.annte Eselritter. Diese, ein Deutsch-Amerikaner und
Transvaaler, kamen mittellos von Qkahandja nach

Grootfontain; sie hatten den 400 Kilometer langen Weg
zu Fuß zurückgelegt, jeder seine Schußwaffe nebst einem
Wasserfaß über den Schultern. Ein Efel trug ihr gs-
ringes Gepäck. Wahrscheinlich infolge der ausgestandenen
Strapazen halb verzweifelt, zogen sie trotz gegenteiliger
ernster Vorstellungen zum Okawango in der Absicht, dort
ihr Glück zu versu-chen. Hier fanden sie durch die Ein-
geborenen ihren Tod.

Derttsches Reich/

Preußen.

— Die N a t i o n a 11 i be ra l e n, dle in der letztsn
Tagung übcr 76 Mandate verfügten, haben bis jetzt 74
Mandate sicher. Mandate, die sie bis-her besaßen, nnd für
die die Entscheidung bei der llrwahl noch nicht gefallen
ist, habcn sie bei der Hauptwahl in folgen-den acht Wahl-
kreisen zu verteidigen: Elberfeld-Barmen, Neuwied-
Altenkirchen, Halle, Flensburg, Bielefeld, Kassel-Land,
Oberlahnkreis und St. Goarshausen. Außerdem steht
ein neues Mandat für die NationalliberalM in folgenden ^
sechs Wahlkreisen noch in Frage: Teltow-Charlottenburg, '
Wanzleben, Fallingbostel, Bielefeld, Hamm-Soest und
Marburg. Nach der Lage in den einzelnen Wahlkreisen,
in denen die Entscheidung noch fällt, kann man für die
Nationalliberalen auf ein Gesamtergebnis von etwa 86
Mandaten oder einen Gewinn von etwa 10 Mandaten
gegen 1898 rschnen. Dabei ist noch zu berückstchtigen,
daß für zwei Mandate, die die Nationalliberalen bisher
besaßen, diesmal Kandidaten nicht in Frage kameng in
Lennep-Remscheid-Solingsn wurde ein bisheriges natio-
nalliberales Mandat den Freisinnigen und in Neuwied-
Altenkirchen ein solches den Freikonservativen über-
lassen.

Bus Staot UNd Land.

Heidelberg im Kaiserpanorama. Die Frage, wie sich
Heidelberg im Kaiserpanorama ausnehme, ist augenschemlich für
einen gvo-ßen Teil der Einwohnerschaft unserer Ncckarstadt von
nicht geringcm Jnteresse, denn seit dem letzten Soimtag werden
die Gucklöcher des Panoramas beständig von neugierigen Augcn
belagert. Anch zahlreiche Schulklassen suchen das Panorama auf,
und da kann man in Bestätigung einer alten Crfahrung di:
Beobachtu'ng machen, 'daß viele -der 6- und 10jährigen Kinder
doch recht wenig von Heidelberg wissen. Unter 80 sind ge-
wöhnlich nur 4 oder 5 auf dem Königstuhl gowesen, den übrigen
ist jene Höhe-broben un'bekan'ntes Lcmd. Dle Kinder trifft na- ^
türlich kein Vorwurf, aber die Eltern müssen doch sehr ge-
tadelt werden. Wie gesund und wie schön ist doch ein Spazier-
gang in der herrlichen Umgebung unserer Sta-dtl Hoffentlich wird
Heidelberg im Panorama nicht uur den Auswärtigen, für die
es hauptsächlich bestimmt ist, sondern auch den Sinheimischen
die Anreguug bieten, sich mit den schönen Punkte'n -von Heide-l-
berg und Umgebung persönlich bekannt zu machen. Die Aus-
wahl der 60 Ansichten ist tabellos; Heidelberg fpiegelt fich sv-
zusagen von allen Seiten. Nichts Charakteristisches ist aus-
gelassen. W-enn man die 50 Bilder an seinen Augen hat vor-
beiziehen lassen, so wird es einem wirklich schwer, zu sagen,
was am be-sten gefallen hat. Je nach 'der besonderen Neigung -
wird einer d-ieses, der andere jenes Mld vornehmlich loben.
Uns erschien von ganz besonderem Reiz der Blick von der '

Engclswiese her; ihm ebenbürtig ist der Blick vom Rindcn--
häuschen und cmch die Aussicht ins Neckartal vom Wolfsbrunnen-
Auweg ist geeignet, den Ruhm Heidelbergs ganz bcsondcrs laut
zu verkünden. Wie alle Aufnahme, so zeichnen sich auch die-
jenigen vom Schloß durch grotze Schärfe und Deutlichkeit aus;
das einzige, was bis jetzt genau nicht hat wiedergegeben wer-
den können, ist der warme rote Ton des Scm-dsteins der Schlotz-
bauten, doch hören wir, datz derselöc in die Kopieen, die von
der hier ausgestellten Serie angefertigt. w-evden, noch hinein-
gebrächt wer'den soll. Und man glaubt, datz es gelingen
wird. Wie schon mitgetcilt, wird Heidelbcrg in einer Anzahl
glcicher Serien von An-sichten al'sbald eine Rundreise durch die
Welt machen. Ohne Zweifel wird imser weitberü'hmtcs Heidel-
berg dadurch neue Freunde gewinnen und manch' Einer, der
es,im Panorama sah, wird bestrebt sein, die herrlichen An-
sichten, bie er im Bilde genoß, äuch in Wirklichkeit in Augenschein
zu nehmcn.

Patentbcricht für Vaden vom 17. November 1903.
Mitgeteilt vom Jnternat. Patentbureau C. Kleyer, Karls-
ruhe i. B., Kriegstr. 77. Auskünfte ohne Recherchen werden
den Abonnenten dieser Zeitung kostenfrei ertcilt. (Die Zif-
fern vor der Nummer bezeichnen die Klasse.) Patcntan-
meldungen: 68. b. H. 80 386. Vorrichtung zur Sicherung
an Kleiderhaken aufzuhängender Kl-eider. Fritz Hamburger,.
Freiburg i. Br. 14. . April 1903. P a te n t e r t e i l u n -
gen: 49. i. 147 996, Verfahren zur Herstellun-g von massivem
Doublödraht; zus. ,z. Pat. 139 674. Fr. Kammerer, Pforz-
heim, Ladg. 11. 6, Januar 1908. G e b r a u ch s m u st e r-
Eintragungen: 8- 211 695, Stielhalter für Schrubber»
Besen u. dergl., bestchend aus einer gesp-altenen, gerippten,
Metallhülse mit seitlich angeordnetem Befestigungsteil zum.
Ausein-andertreiben der Hülsenteile. Karl Tabler, Heidel-
berg. 8., September 1908, 70. ä. 211 055. Tintenlöschsr,

mit Radiergummis und im Kopfe untergebrachtem Marken-
cmfeuchter. Paul Eyrich und Heinrich Bender, Mannheim L.,
11.1. 26. August 1903.

-j- Doffenheim, 17. Nov. (D e r hiesige Raiff-
eisenverein) hielt gestern Sonntcrg N-achmittag in der
Brauerei Merkel sein-e Generalversammlu>njg ab. Anwesend
waren 115 Mitgliedcr. Jn einer turzen Ansprache legte dss
Vorstand den Ziveck und das Ziel des Vereins dar, und ermaüntL
seine Mitglieder, ihre ganzs Mühe daranf zu verwendcn, dasz
immer mehr neue Mitgliedcr dem Vercin beitreten, da der
Verein ja in doppelter B-eziehung seinen Mitgliedern Vorteile
biete nnü zwar als Spar- und als Konfumverein. Ein recht
erfreuliches Bild entwarf der Rechner 'des Vereins von der
Tätigkeit und dem Stand desselben. Seit der kurzen Zeit seines
Bestehens -weist derfelbe einen Umfan-g auf und zwar an Ein-
lnahmen von 108 521 Mk. und eine Ausgabe von 107 134 Mk.,
also einen Gesamtumsatz von 215 955 Mk. bis 1. Oktob. d. I.
Trotz der ungünstigen Einnahmen aus lcrndwirtschaftlichen Er-
zeugnissen siiid der Kasse doch in diesem Jahre zugeflossen
25 000 Mk. 27 neue Mitglieder sind im Lanfe- des Jahres
1908 dem Verein beigetreten, sodaß feine 'Gesamtmitgliederzahl
z. Zt. 225 beträgt. Möge der Verein auch fernerhin, wie bis-
her, wachfen, blühen und gedeihen!

Mannheim, 17: Nov. (Der wiIde Mann imStra f-
kammersaal.) Ein ra> biater Angeklagte- r prodn-
zierte sich gestern, den Mannheinrer Blättern zufolge, vor der
Ersten Strafkammer iri der Rolle des Wrlde'n Mannes. Der
1862 in Höhenwölfen (Lan'dg.-Bez. Naumburg a. S.) geborene
Kaufmann Ernft 'Franz Böhme hatte stch >wegcn einer Mcnge
von Wäfchediebstählen zu verant-worten. Böhme ist, wie man
sich erinnern wird, erst kürzlich -wegcn Beleidigung der Mcmn-
heimer Richter zu 3 Monaten -Gefängnis verurtcilt worden,
Der in hohem Grade schwindsüchtige- Angeklagte hat sich schon
im ganzen Lanfe der Voruntersuchung merkwürdig öenommen.
Er bestand mit Hartnäckigkeit darauf, er sei nicht der Böhme,
fondern ein gewisser Blank. Böhme sei allerdings fein bester
Freun-d. Es mnßten Zengen aus seinem frühercn Wohttsitz

Hinter den Kuliffen.

Roman von Karl Postumus.

^) (Fortsetzung.)

^ "Keine Rühlen mehr, Mutter," tröstete sie, „sondern eine
Ktadenl Will ich nicht Hungers sterben, muh ich etwas ergreifen.
M selbst warfst mir vor, nichts als Reiten zu verstehen. Nuu,
verstehe ich, gottlob. O, 'der alte Herr, der meinen emstigen
?chah, meine Lie'be zu Erich, in den Schmutz zog, soll sich iu
stwe hochmütige Seele hinein grämen. Dcr Himmel weitz, ich
^chnete nicht auf sein 'Geld. Nun 'tverfe ich ihm alles, alles
die Fütze, er trieb mich zur Verzweiflung, doch auch ihn
öjsll ich am veriMindbarsten Punkt verwundenl Der -Existenz-
Witet, aper nicht feines eigenen Namens kann er mich berauben.
den wird die Schulreiterin führen."

Tn ihrem Schmerze, ihrem lodernden Zorne, ihrer ^er-
fF^iflung sah Fnes einem -dränenden- Rachedämon ahnl-ich.
sivisonst 'beschworen nun Mntter und Schwester sie und baten,
WFückzutreten. Sie mutzten freilich die Unmöglichkeit batd em-
'Äcn bei der unerschwinglichen Höhe des Strafgeldes für den
^ontraktbruch. Es gab wirklich kein Aurück.

Wenigstens führte die Unselige nicht mehr den Namen ihrer
s°füder, aber für idiese war-en die Folgen des übereilten Schrit-
^ trohdem nicht abzufehen.

Sobald nun Frau von Rühlen nach Ueberwinden des ersten
Zchreckens zu überlegen bcgann, erwachte auch schon ihrs a-lte
Fdannkraft. Sie suckite -der Tatsache die Veste Seite abzuge-
?">ncn. Voerst lietz stch nichts anderes tim, als -dcm unglück-
"chen Kinde zur Seite zu steh-en, fie zu begleiten.

^ Das erwartcte Jnes cbenfalls von der Schwestcr. Da Nery
Ms h-och einfchätzte, — datz deren Name und sensationelles
sxchrcksal ihm bei genügender Rcklame volle Häufcr machcn
?utzte, wutzte er nur zü gut. — ksnnten sie alle drci von der
"ohe„ Gage lebcn.

, . Alle die Erklärungen gab Jnes mit fo wcgivcrfender Bitter-
datz Liddy über die ihr unvcrsrändlichen Gefühle traurig

den Kopf schüttelie. Solche Leidenfchast ging ihr über ihr Be-

griffsvermögen, sie verstaNd nur zu leiden, sich anfzuopfern
und Tag und Nacht für cmdeve zu arbeiten. Dabei schrumpfte
ihre Empfindungsfkala vielleicht sin, blieben Hatz, Rache und
Verachtung ihr fremd.

Deshalb fah ste Fnes fchsu von der Seite an und fchüttelte
den Kopf. Unmöglich! Was? Sie sollte in Bcrlin oder auf
Reisen mit der Gesellschaft von einer teuren Grotzftadt zur
andern, der Schwester fcmreni Berdrenst mitcmfessen? Nützen
konnte sie ihr nicht biel und hier würdcn die bisherigen Abfatz-
quellen für ihre eigenen Arbeiten versiegen.

Nls sie 'dies mit fanfter Bestimmtheit auseinandersetzte, hatte >
ihre Mutter nur das ein-e Bedenken, sie könn-e anstandshalber
unmöglich allein bleiben, wo fie erst achtundzwamzig Jahre
zähle, was Liddh mit dem Bemerken aus dem Felde schlug,
datz es für sie gleich sei, ob ste achtundzwamzig oder fünfzig,
Jahre alt wäre. Läch-elnd zuckte sie die mageren Schultern,
als sie hinzusetzte: um ein reizloses, alterndes Mädchen, das
mitten im Gewer-be steht, kümmert sich überhcmpt kein Me'nsch
weiter. Folgltch galten anch unter d'en jetzigen Berhältnissen
die Schicksalsformen der guten Gesellschaft nicht un'd fallen vor
dem harten Mutz, vör dem Broterwerbe, vor fich selbst zu-
sammen. Jm übrigen müsse sür Mutter und Schwester dies
kleine Heim zum Ausruhen gerettet werden. „Mutter würde
ja ohne ihr eigenes Nestchen. bei dem Nomadenleben gar kein
Zuhause staben, und", erklärte sie mit praktischer Umsicht, „wer
sollte wohl mitzer mir der Brüder Wäsche flicken nnd plätten
und an alles denken, was den Jungen immer fehlt? Nein, nein,
Jnes, mein Posten ist am Stickrahmen, an der Maschine, am
Näbtische, sobald ich nickll kunstgewcrblich tätig scin kann. Latzt
mich nur zu Haufe schaffen."

Jn Berlin, wohin Mutter und Tochter bald Lberfisdelten,
hielten die nötigen Borbereitungen, besonders die Dressnr ihrer
Pferde, Jnes so in Atem, datz sie kaum dazu kam, über sich und j
ihr Geschick nachzudenken. Unter 'den gänzlich veränderten V-er- i

hältnissen schien ste sich, zumal -die Arbeit sie körperlich und
geistig ermüdete, eine andere Person geworde'n> zu fein.

Natürlich' suchte Sirektor Nery von Anfang cm 'der jungen
Garonin erstes diljlftreten für die Sportwelt der Hcmptstadt zu
einem Ereignis ersten Ranges zu gestalten. Gcrade in Len
Kreifen war Jnes^und ihr Gatte bekannt und beliebt gewesen.
So erregte ihr Schicksal und noch mehr ihre autzergewöhnliche
Handlungsweife ungeheures Aufsehen. Jedermann suchte nach
einer Begründung des Schrittes; die Zeitungsreklame aber be-
mächtigte sich inzwischen des überaus -dankbaren Stoffes. Untcr
großem Wortschwa,Ü cherschleiert, lietz man gcheimnisvoll, doch
nicht weniger deutlich, zwischen den Aeilen lesen, sch-wieger-
bäterlicher Geiz zwange bie junge, vornehMe Frau, ihre hervor-
ragende Reiikunst dem Erwerbe dienftbar zu machen. Ueberall
sah man ihr Bild in- den Schaufenstern. Den Zylinder auf
dem dunklen, pikcmten Köpfchen, das ernst und kalt blickte„
die zierliche Gestalt im einfachen Reitkleidc, fo stand sie neben
ihren herrlichen Pferden, odcr satz im Sattel.

Datz „Astor", der bekannte Sprmger, unter ihrem Manne
refüsiert unb dcsscn Tod verschuldet hattc, crhöhte imr das all-
gemeine Jnteresse für die Reiterm. Mürde sie den Hengsi
wirklich Leim ersten Auftreten besteigen? Ein Nervenkitzel eige-
ner Artl Neugierde, mit leichtem Grausen vermifcht, trieb eine
ungeheure Menge in den Zirküs. Zart organisierte Gemüter
begriffen überhaupt nicht den Mut der jungen Frau, solch bös-
artiges Tier zu reiten, das einem Manne fogar nicht gehorcht
hatte, uud rwch weniger begriffen sie die „Herzenskälte" der
Frau, cin Tier zu besteigen, mit dem ihr Maim verunglückt
war. Recht abenteuerliche Schil-derungen durcheilte'n die ver-
schiedenen Zirkel Bersins, die darin übereinstimmten, von vorn-
herein zu verdammen. Das „Steinigt siel" natürlich nur in
moralischer Beziehung, schien allerorten Losimgswort gcworden.

Trotzdem oöer geräde deshalb wollte jeder sie seben, um
selbst zu nrteilen, in wieweit das cmhergewöhnliche Reitgenie
das Urbild aller Unweiblichkeit wäre. Auch lietz man sichs
 
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