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Der Kunstfreund — Band 1.1874

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Unsere Aufgabe
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https://doi.org/10.11588/diglit.56232#0007

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Unsere Aufgabe.
»Der Lauf der Begebenheiten hat dem Genius der Zeit eine Richtung
gegeben, die ihn je mehr und mehr von der Kunst des Ideals zu entfernen
droht.» Diese Worte, mit denen Schiller in den herrlichen Briefen über
die ästhetische Erziehung des Menschen seine Ausführungen beginnt, klingen
durch manche Klagen der Neuzeit hindurch und scheinen auch heute nicht
unberechtigt zu sein.
Die gewaltigen politischen Ereignisse, die hinter uns liegen, sowie die
staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Aufgaben, die der Lösung noch
harren, ziehen — so möchte es scheinen — das Interesse aller Gebildeten
so mächtig und ausschliesslich auf sich, dass das Gebiet des Schönen mehr
und mehr der Pflege der Schaffenden wie der Theilnähme der Geniessenden
verlustig zu werden droht. Und wird nicht durch das oft beklagte, oft ge-
geisselte Jagen nach materiellen Gütern und Genüssen jeder Sinn für schöne
Kunst ertödtet?
Wir können diesen Klagen nicht unbedingt zustimmen, wir können nicht
zugeben, dass unsere Zeit weniger Sinn für geniale Kunstschöpfungen habe
als irgend eine frühere. Die Theilnahme, welche den dichterischen und mu-
sikalischen Meisterwerken, sowie den Denkmälern der bildenden Kunst ver-
gangener Zeiten entgegen gebracht wird, ist ohne Zweifel eine allgemeinere
geworden, und auch den mitlebenden Meistern wird seltener, als früher in
Deutschland der Kranz verweigert, den sonst oft erst die Nachwelt auf ihre
Stirn gedrückt hat.
Gewiss liegt auch in unserer Zeit die Gefahr nahe, in das Materielle
zu versinken; aber um so mehr ist es unsere Aufgabe, das Panier des Ideals
hochzuhalten, uns und andere aus dem sinnlichen Schlummer zu wecken, in
dem Genuss und der Betrachtung wahrer Kunst dem Ziele der Humanität
uns zu nähern. Denn die Pflege des Schönen gehört zur Humanität ebenso
wie die Verwirklichung des Guten und die Erkenntniss des Wahren. Das
Menschengeschlecht bedarf darum nicht nur der moralischen und intellec-
tuellen, sondern auch der ästhetischen Erziehung. Diese Erziehung freilich
kann nicht von aussen kommen, sie ist freie Selbstbildung in der Aneigung
dessen, was die schöpferische Phantasie der Genien aller Zeiten hervorge-
bracht hat.
Diese Blätter sollen vor allen auf solche Schöpfungen hinweisen, in
denen sich der Geist einer genialen Persönlichkeit gleichsam verkörpert hat.
Sie liebend in sich aufzunehmen und zu verstehen ist eine Hauptaufgabe
der ästhetischen Erziehung. Mehr als das blosse Studium der Aesthetik
nützt oft ein Kunstwerk, das zum wahrhaften Verständnisse gebracht ist,
sei es nun ein griechischer Tempelbau oder ein gothischer Dom, sei es Michel
Angelo’s Moses oder Rafael’s Vision des Ezechiel, Palestrina’s Psalmen oder
Beethovens neunte Symphonie, Sophokles’ Antigone oder Göthe’s Faust.
Der an den idealen Schöpfungen der Vergangenheit gebildete Sinn wird
nun auch den Schöpfungen der Gegenwart verständnissvolles Interesse ent-
gegenbringen. Er wird sich abwenden von allen Bestrebungen, die durch
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