Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstfreund — Band 1.1874

DOI Artikel:
Ein Wagner´sches Kunstwerk und die Kritik
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.56232#0345

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
411

Ein Wagner’sches Kunstwerk und die Kritik.
(Schluss.)
Tristan und Isolde hat immer einen üblen Ruf gehabt;' lange Jahre
galt das Werk für unaufführbar. Als das Münchener Hoftheater endlich den
Gegenbeweis geliefert hatte, wollte es ein bedauernswerther Zufal7r dass der
Darsteller des Tristan, Schnorr von Karolsfeld, bald darauf starb. .Schnorr
ist am Tristan gestorben, so hiess es. So unsinnig dieser Ausspruch au ch ist,
er fand geneigtes Ohr, und der arme Tristan wurde in sein früheres D unkel
zurückgestossen. Wien versuchte allerdings späterhin, den Bann zu brechen,
aber die Kräfte waren zu schwach; Berlin nahm vor Kurzem auch einen
Anlauf, wurde aber beim ersten Schritt von Wagner’s Hand in seiner guten.
Absicht zurückgehalten. Tristan wurde immer unmöglicher. Da plötzlich,
ertönte es von Weimar: Es sei gewagt! und ganz Deutschland richtete den
Blick nach der alten Musenstadt, wo nicht zum ersten Mal der Beweis
geliefert werden sollte, was deutsche Kunst zu leisten vermöge. Niemand
sah den Aufführungen mit erwartungsvollerer Spannung entgegen, als die
Journalisten, welch reicher Stoff für ihre Feder und noch dazu in der-
zeit der säuern Gurken.
Sonntag den 14. Juni fand die erste der drei bekannten Aufführungen
statt. Schon zwei Tage darauf konnte man in den meisten politischen
Zeitungen spaltenlange Artikel über das Werk und über die Aufführung
desselben lesen. Bedenkt man, dass die Vorstellung bis beinah 11 Uhr
dauerte, dass die Manuscripte für die Dienstag-Zeitungen spätestens Montag-
Morgen auf die Post gegeben werden mussten, so begreift man in der That
nicht, wo die betreffenden Kritiker Zeit und geistige Spannkraft hergenommen:
haben, um den in der Vorstellung gewonnenen Eindruck zum tieferen Be-
wusstsein zu bringen, sich überhaupt über das Gesehene und Gehörte, das
ihnen überraschend neu entgegen trat, vollständig klar zu werden, um dann
ihre herzinnere Ueberzeugung zu Papier zu bringen und in die Welt zu ver-
senden. — Mich überläufts eiskalt, wenn ich nur daran denke, dass mir je
eine solche Aufgabe zu Theil werden könnte; wie würde ich mit meiner
ehrlichen Kritik bestehen! Allerdings: Uebung macht den Meister, die
Routine thut Viel, wenn nicht Alles! Aber es ist keine edle Aufgabe, ein.
solcher Routinier zu werden, der die Schablone immer in der Tasche mit
sich herumträgt, um im gegebenen Fall die todten Formen mit Dinte auszufüllen.
Wie nicht anders zu erwarten, widersprachen sich die verschiedenen
Recensionen auf das Wunderbarste, auf der einen Seite Bewunderung, die
sich zur höchsten Verzückung steigerte, auf der anderen Hohn, Spott und
souveräne Verachtung; dazwischen bewegte sich eine kleine Schaar, die sich
höchst unbehaglich befand, die nicht loben wollte aus Rücksicht auf die
literarischen Freunde, auch weil es sich mit ihren früheren Auslassungen
über ähnliche Werke nicht vertragen hätte, die aber auch nicht tadeln wollte,
weil ihr mit der Zeit ein schwaches Licht des Verständnisses aufgegangen
war, und weil sich so Etwas wie bessere Ueberzeugung in ihren Vertretern regte.
Ein wenig Nachdenken hatte diesei- Partei schliesslich zu der Ueberzeugung
verhelfen, dass sie einer immer traurigeren Berühmtheit entgegengehe, wenn
sie sich nicht entschliesse, ihre früheren Gesinnungsgenossen ein wenig seit-
wärts liegen zu lassen und eine Mittelstrasse zu wandeln, die allerdings zu
 
Annotationen