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Der Kunstfreund — Band 1.1874

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Concertschau [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.56232#0159

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153

Concertschau.
Der verflossene Monat brachte zwei bedeutendere musikalische Ereignisse.
Der Zeitfolge nach war das erste die Aufführung des „Judas Maccabäus“ von
Händel durch den Stern’sehen Gesangverein, welche wir deshalb ein Ereigniss
nennen, weil sie in den Reichshallen stattfand. Hier steht nämlich nicht nur ein weiter
Raum für riesige Chor- und Orchestermassen, sondern auch die Mitwirkung einer Orgel
zur Disposition, wodurch endlich einem in Berlin lange gefühlten Bedürfnisse abgeholfen
worden ist. Und die Wirkung dieses für Händel so nothwendigen Instruments war auch
in der That eine grossartige; das Orchester erhielt dadurch ein Fundament, wie es voller
und durchgreifender nicht gedacht werden kann, und wenn der Organist noch ein wenig
umsichtiger verfahren wäre und bei vollem Forte nicht stets einen Moment nach dem
Orchester geschlossen hätte, so würde der eigenthümliche Klang der Orgelstimmen selbst
für ein geübtes Ohr eben nur eine machtvolle Klangfülle für die Gesammtwirkung ge-
wesen sein. Das soll aber kein Vorwurf sein, denn es hat bei dieser riesigen Schaar von
Sängern und Musikern für den Dirigenten gewiss grosse Schwierigkeiten, nach allen Seiten
hin Alles in einen Moment zusammen zu fassen. Dass dies aber dennoch fast ausnahms-
los geschah, gereicht Professor Stern und seinem anerkannten Directionstalente zu desto
höherem Ruhme. Ueber die Leistungen des Chors können wir kurz hinweggehen, der
Tactstock des Dirigenten war den Stimmen der führende Feldherrnstab, dem sie unbedingt
und im entscheidenden Augenblicke sicher gehorchten, wie Berlin das vom Stern’schen
Verein nicht anders kennt. Wenn wir eine Ausstellung zu machen hätten, so wäre es
allenfalls die Behandlung des Chores: „Seht! er kommt, mit Preis gekrönt!“ da wir das
Heranwachsen aus dem leisesten Pianissimo, gleichsam, als zöge der Chor aus der Ferne
herauf, in Nichts gerechtfertigt finden. Hr. Albert Niemann war ein Judas Maccabäus,
dem wir die geringe Beweglichkeit in Händel’schen Tonfiguren gern verzeihen; denn in
seiner machtvollen Stimme, die selbst den kräftigen Trompetenchor noch überstrahlte, in
der deutlichen kernigen Sprache, in der vortrefflichen Wiedergabe des Charakters, den
Händel in die Figur des Judas gelegt, war eben jeder Zoll ein Held. Solchem Judas
können wir zutrauen, dass er sein Volk von den Bedrängern erlösen wird. Dagegen trat
die zwar klangvolle Bass-Stimme des Hrn. Köhler aus Dresden merklich in den Hinter-
grund. Es fehlt ihr das eherne Metall, das nun einmal zu solchen Händel’schen Partien
unentbehrlich ist, und dieser Mangel wurde bei Herrn Köhler auch nicht durch charakte-
ristische Declamation ersetzt. Ebenso wenig können wir Frau Schmidt aus Stettin,
Sopran, und Frl. Assmann, Alt, Häudelsängerinnen nennen. Ja, die erstere Dame
scheint überhaupt sehr wenig das Zeug für eine tüchtige Oratoriensängerin zu haben, wo-
mit wir indessen ihrem Gesänge an sich durchaus nichts Nachtheiliges gesagt haben
möchten, ■— Jedes soll eben in seiner Weise am rechten Orte auftreten. Aus welchem
Princip der Stern’sche Verein zu seinen Aufführungen vornehmlich auswärtige Solokräfte
heranzieht, ist uns unbekannt; Thatsache ist, dass diese Kräfte sich nun schon recht oft
der ihnen gestellten Aufgabe nicht gewachsen gezeigt haben. — Von wem die Orchestri-
rung des Judas Maccabäus herrührt, vermögen wir nicht zu sagen, Mozart’sche Instrumen-
tation war es nicht.
Das zweite Ereigniss ist für Berlin von noch grösserer Wichtigkeit, denn es be-
trifft den „Odysseus“ von Max Bruch, aufgeführt durch den Cäcilien-Verein unter
Direction des Herrn Alexis Holländer; denn ein grösseres Werk eines lebenden, noch
dazu jüngeren Componisten hier in Berlin durchgeführt zu sehen, ist in Wahrheit ein
Ereigniss in des Wortes weitester Bedeutung. Dass das Publikum in Berlin sich neuen
Erscheinungen gegenüber stets sehr reservirt verhält, ist eine Thatsache, und es gehört
ein nicht geringer Muth dazu, wenn ein toncertunternehmer es wagt, die grossen Opfer
an Mühe, Zeit und auch Geld für einen Misserfolg oder im günstigen Falle vielleicht
zweifelhaften Erfolg einzusetzen. Es ist daher erklärlich, wenn grössere musikalische
Novitäten in Berlin selten auftreten und in der Regel erst dann, wenn von allen Seiten
günstige Berichte über anderweite Aufführungen eingelaufen sind. Und trotz dieser gün-
stigen Berichte verhält sich dann das musikliebende Publikum und die musikalische
Kritik unserer Hauptstadt dennoch häufig ablehnend. Wir können hier diese auffallende
Erscheinung nicht eingehend erörtern, sondern begnügen uns, darauf aufmerksam zu
machen, dass bei den enormen Mitteln, über welche Berlin gebietet, hier nur das wirklich
Gute durchschlagen kann, während in anderen Orten oft schon das Mittelgute eine her-
vorragende Stellung einzunehmen berechtigt ist. Max Bruch’s Odysseus gehört nun freilich
nicht zu diesem Mittelmässigen, es ist immerhin eine hervorragende Arbeit; aber die
ausserordentlichen Lobeserhebungen, die dem Werke und seinem Schöpfer von allen
Seiten in überreicher Fülle gespendet worden sind, hatten unsere Erwartungen in einer
 
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