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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 1.1919/​20

DOI Heft:
1. Novemberheft
DOI Artikel:
Münsterberg, Oskar: Chinesische Marmorfiguren: ein Briefwechsel (in deutscher Uebersetzung)
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https://doi.org/10.11588/diglit.27815#0101

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habe. Ich danke Ihnen für die freundliche Über-
lassung der Photographien.

Daß die Stücke aus der Zeit der Liao Dynastie
(927—1125 n. Chr.) stammen, glaube ich kaum, schon
weil die Erhaltung so gut ist. Im Laufe der Jahr-
hunderte plfegt die Steinoberfläche mehr verwittert
und die vielen scharfen Kanten und Spitzen mehr
geglättet zu sein.

Die elegante und geschwungene Linienführung der
Gewandung und der graziösen Fingerstellung erinnert
mich an kleine Porzellanfiguren aus der Zeit Kien-

Höhe 80 cm

lungs, also aus dem Ende des 18. Jahrhunderts. Ich
habe keinen Anhalt, daß früher derartige zierliche
Figuren geschaffen sein könnten.

Es würde sich doch jedenfalls um Tempelfiguren
handeln und diese zeigen stets eine ernste, mehr
herbe Linienführung und Ausarbeitung. Der gläubige
Priester des Mittelalters hatte wohl kaum Sinn für
die graziöse Ausdrucksform einer Rokokozeit.

Es fällt mir außerdem auf, daß alle Gesichter den
gleichen lächelnden Zug um den Mund und die
gleiche unten breite Nase und sehr ähnliche Hand-
und Fingerausftihrung aufweisen. Trotz der Ver-
schiedenheit in Haartracht, Kostüm und Sockel könnte
eine gemeinsame Ursprungsstätte angenommen werden.

Jedenfalls sind die Figuren sehr interessant und ich
werde mich freuen, wenn ich die Originale studieren
darf. Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein,
Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen.

Ergebenst

Dr. Münsterberg.

*

Wenige Wochen später, bevor meine Antwort ein-
gegangen sein konnte, war ein zweiter Brief geschrieben,
der mich kurz vor Kriegsbeginn erreichte:

N o r d C h i n a. T. 3. Juli 1914.

Sehr geehrter Herr!

In Bezug auf meinen Brief vom 2. Juni und die
beigelegten Photographien bitte ich Sie, sich wegen
der erwähnten Statuen keine Mühe zu geben. Ich
habe erst jetzt festgestellt, daß sie das Werk einer
Fälscher-Vereinigung von Bauern-Künstlern sind, die
in der Nähe von Tingchow in der Provinz arbeiten.

Es tut mir sehr leid, Sie belästigt zu haben. Ich
persönlich habe sie teuer bezahlt, aber ich finde
einen gewissen Trost in der Feststellung, daß solche
gute Arbeit heute noch in China möglich ist. Ich
hoffe, etwas zur Unterstützung und zur Weiterent-
wicklung tun zu können.

Ihr ergebenster

E. P. A.

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