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Donath, Adolph [Hrsg.]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 1.1919/​20

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2. Aprilheft
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Widmer, Johannes: Zur Orientierung in der Kunststadt Genf
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https://doi.org/10.11588/diglit.27815#0319

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Abstand von ihm, einen Otto Vautier verloren
haben, belebt genug. Wie sehr, ist mir selber so recht
erst bewußt geworden, als ich einen bedeutenden Nach-
fahren jener Großen, Edouard Vallet, anderswo
gesondert darzustellen hatte. Er war schwer einzuordnen,
so voll von Charakteren, so funkensprühend ist die
neueste Kunstbewegung. Ich kam auf eine Gruppe der
Autochthonen, die, dem Sinn der Kalvinstadt treu
und dennoch weiterblickend, Kraft und Würde, Energie
und Zurückhaltung, Idylle und Heroik auszudrücken
streben; hierhin stellte ich de Beaumont, de Saus-
sure. Ihnen stemmt sich eine fanatisch-sinnliche Gruppe
gegenüber, welche die enthaltsame Religion und Kunst
der Einheimischen durch die Entfaltung eines neobyzan-
tinischen Augenkultus zu überbieten, zu verdrängen
streben; ihr Führer ist der Dalmatopole Alexandre
C i n g r i a , der im Nebenamt ein fruchtbarer Kunstschrift-
steller ist. Eine dritte Schar möchte ich malerische
Pantheisten heißen, sie neigen zum Symbol, wollen
aber das Wirkliche darin, so lang und soweit es angeht,
nachschimmern lassen; hierher stelle ich Alexandre
Perrier, Alexandre Mairet, Albert Tra chsel.
Die meisten Maler aber sehen nach Paris, vertrauend,
daß ihnen das angeborne Selbst von selber in Form und
Farbe übergehen werde, und überzeugt, daß die Franzosen,
die ihnen vorleuchten, den echten Zwecken der Malerei
denn doch am nächsten kämen. Degas, Cdzanne,
Renoir, einigermaßen Monet, dann wieder Bon-
n a r d und sporadisch Matisse sind ihre Götter, wozu
die Einen noch bei der Renaissance und im Rokoko, die
andern bei den Japanern, oder überall, Anleihen auf-
nehmen. Diese Wählerischen, die sich samt und sonders
Nurmaler dünken, sind Maurice Barraud,
Alexandre Blanchet, Gustave Frangois,
Emile Breßler, FelixAppenzeller, Georges
deTraz, Fernand Blondin, A. Cacheux, um
nur die Bedeutenderen dieser Menge zu nennen. Die
Bedeutenderen; denn es ist unverkennbar, daß sich aus
dem Kulturgut, das sie lieben, und aus ihren Einzel-
persönlichkeiten schon eine stattliche Zahl höchst be-
merkenswerter und augenfälliger, in sich wahrer und ge-
schlossener neuer Künstlererscheinungen gebildet haben.
Maurice Barraud und Alexandre Blanchet
sind schon heute im Ausland beachtet; über kurz oder
lang werden ihnen andre folgen; und aus der gesamten
Uebersicht geht hervor, daß das Feuer, das die Großen
entfacht haben, hier heiter, dort düster, lebendig fort-
brennt. Alles in Allem ist wohl auch ersichtlich, daß
de Pantheisten mit den Autochthonen, die
N u r m a 1 e r mit den Neobyzantinern auf zwei entgegen-
gesetzten Seiten der Barrikade stehen, die der genius
loci für die Kunst so gut wie für die Dichtung, Lebens-
art, Politik und Gesellschaft aufbaut; daß Genf also
noch heute dialektische, Kultur auslösende
Kraft in den Adern hat.

So steht es um die Malerei. So um die B a u k u n s t.
Nach einigen Jahrzehnten, die das Stadtbild durch gering-
wertige und nachahmerische Untaten entstellt haben, ist
endlich das künstlerische Element auch im Bericht der

Architektur zum Durchbruch gekommen. Es herrscht
Lust und Leben. Jene Mannigfaltigkeit der Malerei würde
hier freilich zum Übel gereichen. Zum Glück ist hier
der Widerspruchsgeist im guten Lager so heftig nicht,
und so ziemlich alle Maler, Bildhauer und Architekten
werden gutheißen, was die Fatio, Revilliod,
Turrettini und Andre anstreben und leisten. Diese
Architekten entstammen dem Genfer Patriziat, sind aber
zugleich vollkommene Zeitgenossen, und die geschicht-
liche Würde, der wagemutige Weltsinn halten sich in
ihrem Schaffen das Gleichgewicht. Architektonisch aus-
gedrückt will das heißen, daß sie das Schönste ihrer
Standesbauten, die Stadthotels und Landsitze der führen-
den Familien des achtzehnten Jahrhunderts, mit den
Kosmopolis und Masse bedenkenden Großbauten von
heute zu verschmelzen wissen. Sie opfern notgedrungen
einige Feinheit und gewinnen ein Mehr von Dienlichkeit
und Wucht. Ein Musterbeispiel dieses Vollbringens ist
der jüngst abgeschloßne Umbau eines Hotels am Fluß
und See; es heißt mit dem alten Namen des Bergues
und fügt, bezeichnender Weise, hinzu, „et des
Nations“. (Architekt Turrettini.) Auch einige
zur Zeit im Bau stehende Banken versprechen, das
Stadtbild wenn nicht so kongenial wie das Hotel, aber,
mit ihrer modernisierten florentiner Palastweise, doch
höchst annehmbar zu verwandeln. Daß neben solchen
Könnern und Kennern einige Uneinsichtige an gutem
Alten verjüngern und verschlimmern, ist in Genf wie
überall unvermeidlich.

Die Plastik ist in Genf von je einigermaßen
Stiefkind gewesen. Der demokratische Geist des Kal-
vinismus einst, und der kalvinistische Geist der Demo-
kratie heut sind gegen das heroische, herrschende Bildnis.
Nur einigen republikanischen Symbolgestalten und dem
männerschonenden General und Rotkreuzstifter, dem
trefflichen Dufour zuliebe hat man etliche Ausnahmen
zugebilligt. Even und Eroten gibt es sehr wenige, und
auch die Dachkanten der Kurien und Museen sind un-
belastet oder auf jeden Fall bescheiden bedacht. (Der
letzte Mangel ist in meinen Augen ein Vorzug, schon
weil die Plätze Genfs nicht hinreichend weit sind, um
solche Aufsätze wirken zu lassen.) Was bleibt den
Bildhauern in solcher Stadt zu tun? Büsten, Grabdenk-
mäler, Erinnerungsreliefs, Brunnen nebst einigem Fassaden-
schmuckwerk an Palästen, mit denen Genf aber wiederum
nicht eben verschwenderisch ist. So erklärt es sich, daß
Pradier und Chaponni£re auswandern mußten,
und daß heute, ein Jahrhundert nach ihnen, Vibert,
Angst, Sarkippoff, Jäggi, Baud,Reymond
wie der unlang verstorbene R o d o nach Paris, der
deutschen Schweiz und dem weiteren Ausland aus-
schauen. An hervorragenden Kräften fehlt es nicht, im
Gegenteil. Ja beide Grundrichtungen der heutigen
Plastik, die symbolisch-massive, die psychisch-malerische,
haben in dem gereiften James Vibert, in dem
reifenden Luc Jäggi sehr eindrucksvolle und em-
pfindungsfeine Vertreter. Ist die Völkerstadt erst ge-
sichert, so wird sie ihre Manen und Ahnen, ihre Geister
und Ideale durch Meister der Polis selbst in Stein und

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