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Donath, Adolph [Editor]
Der Kunstwanderer: Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen — 1.1919/​20

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2. Maiheft
DOI article:
Schou, Charles J.: Über die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Grundlage der Architektur
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https://doi.org/10.11588/diglit.27815#0358

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welche einen so großen Teil des Denkens des ganzen
18. Jahrhunderts auf dem Gebiete des ethisch-ästhetischen
Problems ausmachte. Und aus diesem Moment, das in
den Schöpfungen der nachkantischen Philosophie eine
so große Rolle spielte, bekam die dogmatische und
empirisch-psychologische Richtung einen Vorstoß, durch
welchen sie mehr als ein Jahrhundert herrschen sollte.
Das Individuum — als empirisches Subjekt trat nach
und nach als dasjenige hervor, um das sich, in Philo-
sophie und Staat, das philosophische und soziale Interesse
mehr und mehr drehte. Kunst und Moral wurden allein
auf die Interessen des einzelnstehenden Individuums
zurückgeführt. Und durch die fortgesetzte gesellschaft-
liche Loslösung des Individuums bekam dieses mehr
und mehr die Empfindung seiner eigenen Bedeutung;
jedoch nicht so, wie K a n t es, in seiner Formulierung
des Subjektes als das theoretische Bewußtsein, gedacht
hatte; aber lediglich als empirisches Subjekt, welches sich
mit seinen Ansprüchen, Hoffnungen und Wünschen
der ganzen Welt gegenüber stellte. Selbst wenn durch
solche Äußerungen möglicherweise der Boden zu einem
neuen und stärkeren ethischen Bewußtsein vorbereitet
werden könnte, so hatten sie vorläufig, durch ihre For-
mulierungen als Naturalismus, Spiritualismus, Realismus
und Individualismus, nur schädliche Wirkungen aufzu-
weisen.

Denn alle diese Ausläufer der empirisch-psycho-
logischen Richtung führten zunächst, wie gesagt, nur
eine Beziehung auf das empirische Subjekt mit sich, in
dem dadurch lediglich egoistische Triebe ent-
facht und gestärkt werden. Der Egoismus zeigte sich
weiterhin in der pragmatischen Politik der Staaten, in
innerpolitischen Streitigkeiten, in Streitigkeiten der Ge-
sellschaft und der Individuen, und die Streitigkeiten
wurden immer gespannter durch die Erregungen, zu
welchen sie führten. Das Ergebnis ist ein fortgesetzter
Auflösungsprozeß geworden und unsere Zeit tritt somit
auf allen Gebieten als eine Zeit des Egoismus, der
Unsicherheit und der Verwirrnis hervor.

3. Auf dieselbe Weise ist auch jene Auflösung
der Architektur, die im Anfang unseres
Artikels behauptet wurde, entstanden und
bis zum heutigen Tage fortgesetzt. Und jener Mangel
jeder Bestimmungsmöglichkeit, der die Architektur-
erzeugungen charakterisiert, ist ein adaequater Ausdruck
für die allgemeine Unsicherheit und Verwirrung. Die
destruktiven Tendenzen in der sophistischen Architektur-
auffassung, und in dem schlechten Architekturunterricht
unseres Tages, müssen schließlich zu einer Negation
alles Wissens in der Architektur, jedes Versuches
zur Bestimmung ihrer Möglichkeit führen.

Als alle Kulturströmungen im Laufe des Jahrhunderts
allmählig ihren Ursprung in die hinter Kant ausgehen-
den Gedankenrichtungen nahmen, suchte und fand die
heutige Architektur ihren Ursprung in der Aesthetik der
Romantik, jener eklektischen Formulierung eines Kri-
terium der Kunst, welche intuitive Gegenbilder von
längst zurückgelegten Stadien der Geschichte der Kultur
und des menschlichen Bewußtseins als Ideal erzeugte.

Folgerichtig geriet man, nach dem beginnenden Verfall
und Niedergang der Architektur, in Nachahmung von
einer historischen Stilart zur anderen, und jene Zurück-
wendung auf „nationale Vorbilder“, von der ein Aufgang
in der Architektur erwartet wurde, muß als die meist
sensualistische, jetzt noch versuchte Grundlage, genannt
werden. Aber die Nachahmungen sind damit noch
nicht erschöpft. Durch Renaissance und Barock ist die
junge und jüngste Generation zur Nachahmung des
Klassizismus und der Architektur nach 1800 gelangt.
Wird dieser Weg der Nachahmung weitergeführt — alle
Anzeichen weisen darauf hin — werden die Architekten
allmählig eine Nachahmung der Nachahmungen des
19. Jahrhunderts erreichen, und die Architekturer-
zeugungen als Analogon des niedrigsten Kulturbewußt-
seins erscheinen.

II.

4. Fragen wir jetzt nach Mitteln und Wegen, die
es möglich machen, statt dieser Nirvana, dieser Aus-
löschung der Architektur, letztere als Element des Be-
wußtseins zu bestimmen, so gibt es nur einen Weg,
dem zu folgen ist. Er besteht darin, auf die Architektur-
werke der Geschichte nicht zu starren, als auf Bildnisse,
die kopiert werden sollen; sondern: es muß ver-
sucht werden einen Begriff, als Grund-
lage d e r Arch i t ektu r, zu erzeugen, und aus
diesem heraus eine Analyse der Elemente
der Architektur aller Zeiten zu schaffen.
Auf diesem Wege allein kann ein wahrhaftes Verständnis
gewonnen werden. Nach und nach muß dieses durch
intellektuelles Interesse erreicht werden, durch die Er-
fahrung, daß sowohl unsere Einsicht als unsere Leistungs-
fähigkeit in der Architektur lediglich davon bedingt ist,
daß wir das Gesetz der Gegenstandsmäßigkeit in der
Architektur kennen zu lernen versuchen. Wenn es nicht
versucht wird, uns die Formen, welche als Grundlage
für die Untersuchungen notwendig sind, zu verschaffen,
kann keine mögliche Bestimmung — und damit auch
kein Unterricht — ermittelt werden.

Hier muß der alte Vitruvius, als Erster, unser
Führer sein. Seine die Architektur umfassende Aussage:
„quod significatur et quod significat“, sowohl als: „signi-
ficatur proposita res de qua dicitur haue autem significat
demonstratio rationibus doctrinarum explicata“,*) soll
hier und weiterhin der Polarstern unserer Arbeit sein.
Dieser Einsicht gemäß muß man sich allmählig klar-
machen, daß das Architekturproblem ein Problem der
Erkenntnis ist, letzter Instanz ein Problem des Bewußt-
seins, und daß seine Lösung nur zu erreichen ist durch
seine Beziehung zur Grundlegung in der Wissenschaft,
und damit in der Philosophie des kritischen Idealismus.

5. Von alters her, bei Platon, Plotin u. a., ist
der Zusammenhang zwischen Kunst und
Wissenschaft behauptet worden. Und dieselbe
Ansicht bewährt sich in neuerer Zeit wieder, etwa bei
Leon Battista Alberti, Leonardo da Vinci
und in der Florentiner platonischen Aka-

*) Vitruvii de architectura Liber primus 1. (edid F. Krohn.)

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