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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1930)
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Seifert, Friedrich: "Feinde Bismarcks"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0151

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MemenL historischer Tragik in sich bergende Frage ohne Weichlichkeit so in
den Mittelpunkt zu rücken, wie es Westphal getan hat.

Nicht nur durch die Art der Behandlung des Stosflichen ist dleseS Buch Beispiel
und Anleitung zu wahrhafter geschichtlicher Selbstbesinnung, sondern rnehr noch
durch die allgemeine wissenschaftliche Haltung, die es zum Ausdruck bringt: die Hal-
tung der Verantwortlichkeit. Wodurch kann die Wissenschaft ihre -— in heftig be-
wegten Zeiten in besonderem Maße geforderte — Verantwortung gegenüber den
Gegebenheiten und Notwendigkeiten der eigenen Zeit bewähren? Indem sie ihren über
die Zeitlichkeit hinauSgreifenden Jdeenbesitz nicht vornehm verbirgt vor der Berüh-
rung mit den zeitlichen Mächten, sondern ihn ins Spiel wirft, d. h. indem sie, „statt die
Zeit anzuklagen, sich selbst als deren Teil weiß, Zeitkritik mit Selbstkritik verbindet".

Diese tragende Grundgesinnung bekundet sich in dem Ausgangspunkt wie in der Glie-
derung des WerkeS. Die Erörterung hebt an mit der kritischen Behandlung einer
aktuellen Erscheinung: der Geschichtsschreibung Emil Ludwigs, im besonderen
seiner Bismarckauffassung. Und sie findet ihren Abschluß — nach der Ausbreitung
der geschichtlichen Erkenntnisse des Mittelstücks — in einem Kapitel philosophisch-
prinzipiellen Charakters „Uber den Begrisf einer politischen Geschichtsschreibung".
Emil Ludwigs Geschichtsbehandlung erfährt nach Stil, Methode, Resultaten eine
ausführliche kritische Würdigung. Aber Westphal greift den „Fall Emil Ludwig"
nicht in seiner Vereinzelung, nicht um seiner selbst willen auf. Es kommt ihm darauf
an, „die Bedeutung und den Erfolg dieses Autors auf die Mächtigkeit allgemeiner
Tendenzen, die sich in seiner Schriftstellerei verkörpern, zurückzuführen". Er nirnmt
die Erfcheinung Emil Ludwigö selbst historisch, betrachtet sie als Glied einer Kette,
als symptomatischen Ausdruck des tief ins 19. Jahrhundert hineinreichenden Vor-
gangs einer Umgruppierung der objektiven geistigen Mächte. „Es macht die Be-
deutung LudwigS aus, daß er die Problematik der gegenwärtigen wissenschaftlichen
Situation nicht ohne Feingefühl und Scharfsinn gleichsam von unten her belauschte,
und es bildet wohl einen Grund für seine Erfolge in weiten Kreisen, daß er Elemente
der Weltanschauung höherer geistiger Stellen mit derberer Hand sich anzueignen
und Kapital aus ihnen zu schlagen verstand. Denn wollte man die gegenwärtige
wissenschaftliche Lage Deutschlands anachsieren, so würde ein charakteristischer Zu-
sammenhang in der Tat der sein, daß unser wissenschaftliches und unser staatliches
Bewußtsein gleichzeitig und miteinander ins Schwanken geraten sind, und daß von
repräsentativer geisteswissenschaftlicher Seite der Primat der Kunst über die Wis-
senschaft zugleich mit der Lehre von der »bösen Macht«, von der »Natur- und
Nachtseite« des Staates hat verkündigt werden können."

Mit dem Hinausführen des EinzelfalleS in diese grundsätzlichen Erwägungen wird
zugleich das Hauptthema der ganzen Arbeit deutlich: in der Auffassung des Verhält-
nisseS der drei Potenzen Kunst, Wissenschaft, Staat und seiner Abwandlungen
sieht Westphal den Schlüssel zum historischen Verständnis des ZeitraumS von 16^6 bis
1918. Der größte Teil der blntersuchungen ist der Entfaltung dieser These gewidmet.

Die letzte große Form eines Einheits zusammenhangs der staatlichen, wissenschaft-
lichen und künstlerischen Jdeen wird repräsentiert durch das System der klassisch-
romantischen Bildung. Es macht die Originalität der Westphalschen Darstellung
aus, daß der Zusammenbruch des Zdealismus — jenes bedeutungsvolle Kulturer-
eignis des 19. Jahrhunderts — nicht einseitig unter dogmengeschichtlichen Gesichts-
winkel gerückt, sondern mit den Veränderungen des staatlichen Systems zusamnien-
gesehen wird. So gestaltet sich das Buch selbst zu einer Verwirklichung der am
Schluß in grundsätzlicher Weise erhobenen Forderung: der Wiederbesi'nnung auf We-
jen und Berpflichtung einer „politischen Geschichtsschreibung".

Der entscheidende Zug^ der mit der Krise des nationalen Gesamtdaseins um die
sfahrhundertmitte beginnenden Selbstzersetzung der klassisch-idealistischen Einheit der
 
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