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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1930)
DOI Artikel:
Seifert, Friedrich: "Feinde Bismarcks"
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0152

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drei HauptelemenLe ist die Loslösung des K u l t u r bewußtseins vom Staats-
bewußtsein. An dieser Entfremdung des „Geisteö" vom Staate sind Bewegungen
im wissenschaftlichen wie im ästhetifchen Lager beteiligt. Die konkreten Einzelzusam-
menhänge, die sich für die historifche Betrachtung von diesem Gesichtspunkt aus er-
geben, sind höchst verwickelt und fchwer uberfchaubar. Mit großem Feingefühl und
bedeutender analytifcher Energie werden die Fäden des Knäuels der mit- und gegen-
einander wirkenden Tendenzen wissenfchaftlicher, philosophifcher, künstlerifcher, poli-
tifcher Herkunft auSeinandergelegt.

Die Folgen der mehr und mehr sich vertiefenden Disharmonie zwifchen Staat,
Wissenschaft und Kunst wirken sich auf jedem der drei Gebiete in besonderer Weise
aus. Auf der Seite des Politifchen führt die Entwicklung zu Lähmung und Verfall
der politifchen Phantasie und Logik, zur Entwertung der ^sdee des Staates bis zur
vollendeten — moralifch oder ästhetifch motivierten — Staatsfeindfchaft; zur all-
gemeinen Einbürgerung der Anfchauung, daß zwifchen „Staat und Geist" nichts
Verbindendes bestehe, daß „Kunst und Wissenfchaft vom Staate absehen könnten,
daß der Staat der Kultur gegenüber etwas Sekundäres und »Minder-wertiges« sei".
Kunst und Wissenfchaft aber, beide dem Staat entfremdet, beide in Opposition
zu ihm, müssen sich auch untereinander entzweien. Die Wissenfchaft ist in di-esem
Widerstreit der unterlegene Teil. Denn das Selbstbewußtsein der Wissenfchaft
wird stärker getroffen durch die Bezweiflung des StaateS und seiner ob-
jektiven Würde. Für die Kunst öffnet sich dadurch dec Weg zur Erlangung deS
Wertvorrangs vor der Wissenfchaft. Der Prozeß -einer Ästhetisierung der Wissen-
fchaft, einer „Zersetzung des wissenfchaftlichen GewissenS durch ästhetifche Tenden-
zen" — mit dem Endergebnis einer Art von Selbstabdankung der Wissenfchaft zu-
gunsten der Kunst — leitet sich ein. Westphal zeigt die in sich zusammenhängende
Linie auf, die von den großen Frondeuren gegen die liberale Wissenfchaft nach
i6/s6 (und gleichzeitig gegen die politifchen ^fdeen der Neichsgründung) — Hebbel,
Nichard Wagner, Jakob Burckhardt, Nietzfche — bis zu den Erfcheinungen des
„ästhetisierenden, psychologisierenden, popularisierenden Literatentums" der NachkriegS-
epoche führt. Die gegenwärtige Wissenfchaft als solche aber (Westphal gedenkt in
erster Linie der Gefchichtswissenfchaft) verfügt über keine ausreichende Schutzwehr
gegen das Eindringen des Asthetizismus, gegen die Vorstellungen einer Schemsynthese
von wissenfchaftlicher und künstlerifcher Produktion — sofern sie sich geneigt zeigt, die
Überwertigkeit der ästhetifchen Prinzpiien auf ihrem eigenen Felde zuzugeben. Niemals
„wäre es möglich gewesen, daß die Publizvstik nicht durch, sondern gegen die Wissenfchaft
erfolgreich wurde, wenn diese nicht längst in sich selbst fchwankend geworden wäre .. . Ge-
rade ihre eigenen negativen Meinungen über sich selbst hat der Publizist auSgebeutet".
Vor dem Hintergrunde dieses AuSeinanderstrebenS der drei Hauptelemente des gei-
stigen LebenS vollzieht sich die Gründung deS ReicheS. Und nun läßt sich die Haupt-
frage, auf die der Titel „Feinde Bismarcks" hinweist, beantworten: die Frage nach
den Gründen der mangelnden Resonanz, die Bismarcks politifches Wollen in den
geistigen Kreisen Deutfchlands gefunden hat. Bismarcks Politik steht jenseits des
wkssenfchaftlich-liberalen und des ästhetifch-demokratifchen Unglaubens an die Verein-
barkeit von Staat und Kultur, Politik und Geist. Wie ein erratifcher Block aus einer
anders gestimmten geistigen Vorwelt ragt Bismarcks Werk kn die kulturelle Ge-
samtsituation der zweiten Jahrhunderthälfte herein. (gn seiner Weltanfchauung lebt
das klassifch-idealistifche Grundgefühl der Aneinsbildung von Neligiosität, Staats-
gefühl, wissenfchaftlicher Vernunft und künstlerifcher Phantasie fort. Die tiefste
Grundlage seines Denkens aber bilden die religiösen Überzeugungen des Luthertums.
„Die Prinzipien der Bismarckifchen Politik entsprangen nicht in voller Wasfenrüstung
aus dem Haupte des Reichsgründers selbst, sondern es war gleichsam die alte Götter-
ordnung deutfch-protestantifcher Begriffe, welche sein Denken und Handeln bestimmte.. .

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