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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 44.1930-1931

DOI Heft:
Heft 2 (Novemberheft 1930)
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Herrigel, Hermann: Arbeitslosigkeit und Philosophie
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https://doi.org/10.11588/diglit.8820#0155

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sie rmmittelbar in das Einzelne eingreift. Das ArbeiLsfeld der Philosophie ift ein
anderes als das der Wirtfchaft, der Politik, der empirischen Wissenfchaft, und soweit
jenerVorwurf das übersieht, befteht er nicht zu Recht. Das Feld der Philisophie
sind, ganz allgemein gesagt, die höheren Stufen des Allgemeinen, rmd der Vorwnrf
der Fremdheit von Philosophie und Leben hat seinen Grund darin, daß der im Prak-
tifchen lebende und denkende Menfch den blbergang vom Allgemeinen znm Be-
sonderen nicht mehr findet; daß er nicht sieht, daß auch von der Arbeitslosigkeit die
Rede sein kann, wo dieses Stichwort nicht vorkommt.

Dieser Zusammenhang ift auch nicht ohne weiteres zu überfchauen, da die Allgemein-
begriffe der Philosophie nicht Gattungsbegriffe sind, die auf der Leiter der spezi-
fifchen Merkmale von den niederen zu den höheren Gattungen auffteigen, sondern
aus dieser Begriffsreihe an irgend einer Stelle ansbrechen und anf ein anderes Feld,
eis gllo A6N08, übertreten. Das Denken der Philosophie ift nicht induktiv, und eö
ist nicht ihre Aufgabe und ihr Ziel, zu einer Zusammenfassung des Erfahrungswissens
und zu einem Weltbegriff zu kommen, der dnrch Jnduktion zu erreichen und durch
logifche Deduktion wieder zn vereinzeln ist; es ist rednktiv, denn es fcheidet die spezr-
fifchen Merkmale aus und geht auf das zugrunde liegende Allgemeine zurück.
Die Philosophie geht zwar von der Erfahrungswirklichkeit aus, aber sie transzen-
diert, überfteigt sie. Wenn diese als eine Ebene gedacht wird, so geht die Philosophie
nicht in dieser Ebene weiter, sondern sie entfernt sich senkrecht von ihr und geht in
eine andere Ebene über. Sie ist nicht am Einzelnen als solchem interessiert, sondern
sie hebt seine Vereinzelung, seine Isoliernng auf und ordnet es in allgemeine Zusam-
menhänge ein, die das Einzelne nicht mehr erkennen lassen, sondern ihm gegenüber
formal sind. Daran würde auch nichts geändert, wenn der Philosoph nicht bloß
in seinem Denken, sondern auch in der Darstellung seines Denkens wirklich vom
Einzelnen, etwa von der Arbeitslosigkeit auSginge, denn sein Übergang in daS For-
male würde ihn fchon nach wenigen Schritten so weit von seinem AnsaH wegführen,
daß er nicht mehr zu finden ware.

Man darf also vom Philosophen nicht verlangen, daß er, um dem Leben näher
zu sein, sich mit der Arbeitslosigkeit befchäftigen solle statt mit der Erkenntnis der
Wirklichkeit, einer nicht bloß auf die Erfahrung befchränkten Wirklichkeit. Wer daS
fordert, bleibt auch fchon nicht mehr innerhalb dieserWirklichkeit, sondern philoso-
phiert selber und sagt über sie, über die Erfahrungswirklichkeit, als Ganzes aus, daß
sie die eigentliche und entfcheidende Wirklichkeit sei. Es ist gar nichts dagegen zn
sagen, daß jemand, wenn er oder sein Mitmenfch hungert, im Augenblick ein Brot
für wichtiger hält als die ganze Philosophie, aber das Brot ist dann nicht bloß wich-
tiger als die Philosophie, sondern auch als alleS andere. Das ist daher kein Einwand
gegen die Philosophie, höchstens gegen eine Philosophie, die ein für allemal zu wissen
glaubt, was Wirklichkeit ist. Aus der Fremdheit von Philosophie und Leben einen
grundsählichen Einwand gegen die Philosophie überhaupt zu machen, heißt nichts an-
deres als eine Philosophie gegen die andere zu stellen und zu erklären, daß man mit
eben diesem Leben, auf daS man sich dabei beruft, fchon das eigentliche Leben, die
eigentliche Wirklichkeit habe.

Der Philosoph hat als solcher zur Arbeitslosigkeit nichts zu sagen, was nur er sagen
könnte; was aber jeder dazu zu sagen hat, wird man ihm weder als Verdienst an-
rechnen, noch wird man es gerade von ihm nocheinmal hören wollen. Er ist jedoch
darin in keiner andern Lage als etwa der Lehrer oder der Pfarrer oder der Arzt.
Auch vom Lehrer, der der Arbektslosigkeit in seinem Arbeitsfelde begegnet, etwa bei
den abnehmenden Leistungen eines Schülers, dessen Vater arbeitslos ist, kann nicht
verlangt werden, daß er als Lehrer Vorfchläge zur Überwindung der Arbeitslosigkeit
mache, sondern seine Aufgabe ist es, ihren Folgen auf seinem Arbeitsfelde, d. h.
pädagogifch zu begegnen.

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