Wie er aber ein schlechter Lehrer tt>äre, wenn er nicht nrn sie wüßke, so muß frei-
lich anch der Philosoph nm sie wissen. Sie muß für ihn da sein, sie geht ihn an
und muß in seinem Denken gegenwärtig sein, auch wenn nichL davon die Rede ist.
Er darf nicht so philosophieren, als ob es die Arbeitslosigkeit überhaupt nicht gäbe.
Die Dhilosophie muß nicht bloß die Welt ändern, sondern sie muß zuerst selber
Hermann Herrigel
eine andere werden.
Zu unseren Bildern
ir haben der Kunst von Käthe Kollwitz gelegentlich ihres 60. Geburts-
'^^-^tages mit zwei Blättern aus unserer Kollwitz-Mappe gedacht. Diese ist
vergrisfen und wird zu Weihnachten völlig erneuert und stark vermehrt erscheinen.
Heute wollen wir unseren Freunden einige Proben des Geplanten vorlegen.
Kinder mit Näpfen. Lithographie. em. Ein rührendes, erschütterndes
Bild, aus dem die Not des Hungers redet, indessen die Hungernden selbst schweigen.
blrsprünglich ein Plakat: „Deutschlands Kinder hungern". Aus der beabsichtigten
Fernwirkung und Schlagkraft des Werbezweckes ergab sich die energische Silhouette
der einzelnen Gestalten wie der gedrängte Zusammenhalt der Gruppe; auch ihre
Anordnung; rechts stand die Schrift. Wie viele solcher Kinder mag K. Kollwitz
in ihrem Viertel gesehen haben — während des KriegeS und lange hernach! Nur
vier Kinder sehen wir und das drängende Geschiebe von fünf Schalen; und doch
ist eS, als ob wir erst die vordersten aus einer unabsehbaren Kolonne zu sehen
bekämen. Diese Fähigkeit, mit Wenigem den Eindruck des Vielen zu erreichen,
ist eine echt künstlerische Leistung; die Photographie würde uns hier mit einer
Masse belästigen. Gewiß kann auch Quantität zur Oualität werden — etwa im
Gigantischen, Kolossalen, aber die geistigere Macht ist doch jene, die mit äußerlich
Geringem innerlich Gewichtiges erreicht. Und wie fern aller Übertreibung und Auf-
reizung ist dieses Kinderelend uns nahegebracht! Wohl sehen wir die dünnen
Ärmchen und mageren Hände, die hohlen Wangen und tiefliegenden Augen, den
schlasfen Mund, das Gedränge zur langerwarteten Duelle — aber nicht im Sich-
Vordrängen und Stoßen und Lärmen nach Art gesunder Kinder, sondern still,
treuherzig, bescheiden, bittend. Damit gewinnt dieses Bitten unwiderstehliche Macht;
wer wollte, könnte, dürfte solche Hosfnungen enttäuschen, die Erwartung dieser
guten, geduldigen Kleinen, die schon früh so viel Leid erfahren und darüber fast
alt geworden? Nur ein mütterliches Herz kann so empfinden, kann so gestalten —
mit so viel scheuem Mitleid um Teilnahme werben. Wie übel beraten sind jene,
die vor solchem Werk von der „Kommunistin" Kollwitz reden!
Schlafendes Kind. Zeichnung. 60:42 cm. Es ist wenig darüber zu sagen;
scheinbar. Gerade in dieser schlichten Selbstverständlichkeit liegt daS Besondere der
Leistung. Ein schöneS Beispiel, wie der Künstler mit wenig Mitteln einen Gesamt-
eindruck zu konzentrieren vermag und zugleich allen wesentlichen Einzelheiten gerecht
wird. Wie anschaulich die in sich ruhende Schwere der gelösten Glieder, die
Zurückgezogenheit des LebenS im Schlaf! Man meint einen rosigen Hauch über
dem Gesichtchen zu spüren. Dazu die tastbaren länterschiede von Stirn, Pausbacken,
Haar, Ohr u. a. Und über dem Ganzen jenes unausdrückbare Etwas, das unS
am Schlaf deS KindeS oft so seltsam ergreift: „Ihm ruhen noch im Zeitenschoße die
schwarzen und die heitern Lose."
Jm st ä d t i s ch e n Obdach. Lithographie. 66:Zi cm. Wie bedeutungsvoll, daß
jede Kennzeichnung einer äußeren Situation fehlt! Trotz des ObdacheS obdachlos;
heute hier, morgen dort — das ist die Situation dieser Frau und ihrer Kinder.
Nicht durch eine plötzliche Katastrophe hat sie die Heimat verloren, ihr Schicksal
ist es, wandern zu müssen. Davon wurden sie so todmüde, nicht vom Wandern an
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lich anch der Philosoph nm sie wissen. Sie muß für ihn da sein, sie geht ihn an
und muß in seinem Denken gegenwärtig sein, auch wenn nichL davon die Rede ist.
Er darf nicht so philosophieren, als ob es die Arbeitslosigkeit überhaupt nicht gäbe.
Die Dhilosophie muß nicht bloß die Welt ändern, sondern sie muß zuerst selber
Hermann Herrigel
eine andere werden.
Zu unseren Bildern
ir haben der Kunst von Käthe Kollwitz gelegentlich ihres 60. Geburts-
'^^-^tages mit zwei Blättern aus unserer Kollwitz-Mappe gedacht. Diese ist
vergrisfen und wird zu Weihnachten völlig erneuert und stark vermehrt erscheinen.
Heute wollen wir unseren Freunden einige Proben des Geplanten vorlegen.
Kinder mit Näpfen. Lithographie. em. Ein rührendes, erschütterndes
Bild, aus dem die Not des Hungers redet, indessen die Hungernden selbst schweigen.
blrsprünglich ein Plakat: „Deutschlands Kinder hungern". Aus der beabsichtigten
Fernwirkung und Schlagkraft des Werbezweckes ergab sich die energische Silhouette
der einzelnen Gestalten wie der gedrängte Zusammenhalt der Gruppe; auch ihre
Anordnung; rechts stand die Schrift. Wie viele solcher Kinder mag K. Kollwitz
in ihrem Viertel gesehen haben — während des KriegeS und lange hernach! Nur
vier Kinder sehen wir und das drängende Geschiebe von fünf Schalen; und doch
ist eS, als ob wir erst die vordersten aus einer unabsehbaren Kolonne zu sehen
bekämen. Diese Fähigkeit, mit Wenigem den Eindruck des Vielen zu erreichen,
ist eine echt künstlerische Leistung; die Photographie würde uns hier mit einer
Masse belästigen. Gewiß kann auch Quantität zur Oualität werden — etwa im
Gigantischen, Kolossalen, aber die geistigere Macht ist doch jene, die mit äußerlich
Geringem innerlich Gewichtiges erreicht. Und wie fern aller Übertreibung und Auf-
reizung ist dieses Kinderelend uns nahegebracht! Wohl sehen wir die dünnen
Ärmchen und mageren Hände, die hohlen Wangen und tiefliegenden Augen, den
schlasfen Mund, das Gedränge zur langerwarteten Duelle — aber nicht im Sich-
Vordrängen und Stoßen und Lärmen nach Art gesunder Kinder, sondern still,
treuherzig, bescheiden, bittend. Damit gewinnt dieses Bitten unwiderstehliche Macht;
wer wollte, könnte, dürfte solche Hosfnungen enttäuschen, die Erwartung dieser
guten, geduldigen Kleinen, die schon früh so viel Leid erfahren und darüber fast
alt geworden? Nur ein mütterliches Herz kann so empfinden, kann so gestalten —
mit so viel scheuem Mitleid um Teilnahme werben. Wie übel beraten sind jene,
die vor solchem Werk von der „Kommunistin" Kollwitz reden!
Schlafendes Kind. Zeichnung. 60:42 cm. Es ist wenig darüber zu sagen;
scheinbar. Gerade in dieser schlichten Selbstverständlichkeit liegt daS Besondere der
Leistung. Ein schöneS Beispiel, wie der Künstler mit wenig Mitteln einen Gesamt-
eindruck zu konzentrieren vermag und zugleich allen wesentlichen Einzelheiten gerecht
wird. Wie anschaulich die in sich ruhende Schwere der gelösten Glieder, die
Zurückgezogenheit des LebenS im Schlaf! Man meint einen rosigen Hauch über
dem Gesichtchen zu spüren. Dazu die tastbaren länterschiede von Stirn, Pausbacken,
Haar, Ohr u. a. Und über dem Ganzen jenes unausdrückbare Etwas, das unS
am Schlaf deS KindeS oft so seltsam ergreift: „Ihm ruhen noch im Zeitenschoße die
schwarzen und die heitern Lose."
Jm st ä d t i s ch e n Obdach. Lithographie. 66:Zi cm. Wie bedeutungsvoll, daß
jede Kennzeichnung einer äußeren Situation fehlt! Trotz des ObdacheS obdachlos;
heute hier, morgen dort — das ist die Situation dieser Frau und ihrer Kinder.
Nicht durch eine plötzliche Katastrophe hat sie die Heimat verloren, ihr Schicksal
ist es, wandern zu müssen. Davon wurden sie so todmüde, nicht vom Wandern an
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