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Charis: rhein. Morgenzeitung für gebildete Leser (2) — 1822

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No 18-26 (März 1822)
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Charis.

Rheiniſche Morgenzeitung fuͤr gebildete Leſer.

— — ——
*

Ne 23.

IITT

Des Kaplans Ausmarſch.

Biographiſches Fragment v. Peregrinus Proteus.
L

Das iſt mir ein Gewaͤſche von Geiſteskraft, von
Freiheitsſinn und von der Nothwendigkeit der Selbſt-
entwicklung! — ſagte der alte kaltbluͤtige Schaffner
Ziffermann, und runzelte ein wenig die Stirn
gegen ſeine Frau, die neben ihm auf dem Sopha ſaß.
„Aber, lieber Vater! du laͤſſeſt ja deinen Kaffee

ganz kalt werden! Hernach bekoͤmmt dir wieder

dein Mittagsſchlaͤfchen nicht wohl!“ — entgegnete
die verſtaͤndige Hausfrau.
Er aber fuhr kalt im obigen Texte fort: v Es iſt
der Narrheit der Philoſophen ganz angemeſſen, die
Jugend fuͤr einen Diamanten zu erklaͤren, der mit
ſeinem eigenen Pulver geſchliffen werden muͤſſe.
Mir reden die Narren wohl. Junge Brauskdöpfe
koͤnnen ſie vollends ſchwindeln machen; aber ein
alter Schaffner, der in lauter Praxis ergraut iſt,
fordert Beweis, ehe er glaubt. — Unſern Hein-
rich wenigſtens will ich ſelbſt ſchleifen; oder viel-
mehr, ich will ihm ſchon Ketten anlegen, die ſeinen
tollen Bocksſpruͤngen ein Ende machen!“

„Ketten, lieber Vater? Ob er ſich ſie aber anle-

gen laͤßt? — Nimm mir nicht uͤbel, Ziffermann,
daß ich dir einrede.

doch durchaus gebaͤndigt wiſſen willſt. Bringe
ihn fort von hier; mache, daß er hinauskommt ins
Leben; wende dich an deine Goͤnner und Freunde — 4
Der⸗ Schaffner ſah einen Augenblick der Gattin

ſchaͤrfer ins ſanfte Auge und fiel ein: „Iſt geſche-

hen. 4 — Er fuͤhrte die Taſſe zum Munde, und

—————

Mittwoch, den 20. Merz

Ich wuͤßte wohl Ketten, die
unſern Heinrich baͤndigen koöͤnnten, weil du ihn

'SIF ˖w-“-

1822.

ſchluͤrfte langſam, den kalten Blick auf das ſchwarze
Waſſer geheftet; und indem er mit der Rechten die
Taſſe auf den Tiſch zuruͤckſezt, zieht die Linke einen
Brief vom Hofprediger Silbermund aus der
Taſche. Ziffermann reicht ihn der Gattin mit
den Worten: „Heinrich wird Kaplan in St. Len.“
Da bewegte Sorge und freudiger Stolz zugleich
das Mutterherz. Vertrauen auf den Erſtgebornen
konnten ihr auch ſeine wilden Streiche, ſeine roman-
tiſchen Grillen nicht nehmen. Sie ſah in ihm einen
Juͤngling voll inneren Werthes; aber ihr klarer Ver-
ſtand ſah ein, er' beduͤrfe der Leitung, wenn die
Entwicklung ſeines Weſens, und ſeine Geſtaltung
zum feſten Manne nicht durch wilde und gefaͤhrliche
Gaͤhrungen vollbracht werden ſollte.

Ahnung durchzuckte einem Blitze gleich ihre Seele,

— „Kaplan in St. Len?“ ſprach ſie gedehnt, und
der Schaffner runzelte ſchon wieder die Stirn,

„Aber, lieber Ziffermann, widerſprichſt du dir

nicht manchmal ſelbſt? Hier haſt du ſtets Alles
davon gefuͤrchtet, Heinrichen nur im Mindeſten
ſich ſelbſt zu uͤberlaſſen, — haſt den Jungen ſo oft
durch deine ſtrenge Aufſicht gequaͤlt, — haſt ihn
dadurch, o geſtehe dies nur, ſelbſt zu mancher Heim-
lichkeit und zu manchem Wagſtuͤck verleitet, und
nun willſt du dem Neunzehnjaͤhrigen auf einmal ſich
ſelbſt, und die Kaplanei anvertrauen — “
„Fuͤrchte nichts — entgegnete der Schaffner ruhig.
— Die Sorge fuͤr fremde Seelen wird die Sorge fuͤr
die eigne mit ſich bringen. Und daß jene nicht ver-
nachlaͤßigt werde, daruͤber werden gewiſſe Augen ſchon
wachen! — Lies du nur den Brief von Silbermund!“
„Und du lies einſtweilen dies da — verſezte die
Schaffnerin, indem ſie ein Blatt Papier unter dem
 
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