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Charis: rhein. Morgenzeitung für gebildete Leser (2) — 1822

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No 53-61 (Juli 1822)
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https://doi.org/10.11588/diglit.22119#0297

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Rheiniſche Morgenzeitung
und

Bote vom Neckar und Rhein.

Vereinigtes Unterhaltungsblatt fuͤr gebildete Leſer.

————

Ne 61.

Unterhaltungen
e in er

F ertſesung.
4.
Dieſe Erzaͤhlung des Abbate war durch mancherlei
Bemerkungen der Freunde unterbrochen worden.
Beſonders zweifelten Mehrere an der Wahrheit der-

ſelben; allein der Erzoͤhler wußte durch Anfuͤhrung
der Schriften von Zeitgenoſſen zu beweiſen, daß
ſich dieſe Begebenheit wirklich, wie ſr erzãhlt wor-

den iſt, ereignet hatte.
»Auf jeden Fall — ſagte Carow ell — lernen
wir daraus, daß es auch damals ſchon gefaͤhrlich
war, mit großen Herren Kirſchen zu eſſen, wie
das Sprichwort ſagt.“
„Wenigſtens war der Scherz Lorenzo's etwas

ſtark — ſezte der General hinzu. — Ueberhaupt

aber giebt dieſe Geſchichte nicht den vortheilhafteſten
Begriff von der damals herrſchenden oͤfentlichen Ord-
nung. Ein Todter wird mit dem andern verwech-
ſelt, ohne daß man fragt, wer der Eine iſt. Einen,

wie man glaubt, an der Peſt Verſtorbenen begraͤbt

man in eine der beſuchteſten Kirchen der Stadt,
und eine Frau ſchreitet zu einer dritten Ehe mit ih-
rem erſten Manne, waͤhrend der zweite noch bei Le.
ben iſt. Das weltliche Tribunal zeigt ſich allein
wirkſam, und das geiſtliche ſo ohnmaͤchtig, daß ſich
mitten in der Domkirche ein Mann ohne Gefahr

erhebt, um ſich ſelbſt als einen Zauberer zu be-

kennen.“ ö
Alle dieſe Umſtände ſind freilich heutzutage hoͤchſt

Mittwoch, den 31. Juli,

Badegeſellſchaft.

— — m——m.
1822.
auffallend — erwiederte der Abbate — allein ein

tieferes Studium der Seſchichte jener Zeit bringt
dieſelben in voͤligen Zuſammenhang mit allen uͤbri-
gen. Zuerſt finden wir bei den Alten uͤberhaupt
nicht die Menge von Anſtalten fuͤr die oͤffentliche
Ordnung, wie heutzutage. Sie aͤberließen der ei-
genen Kraft und dem Zufall das Meiſte. Und wirk-
lich moͤchte man jene Zeiten oft deßhalb beneiden,

denn wie ſehr wird nicht die Freiheit des heutigen
Lebens durch ängſtliche Sorgen fur unſere Si-

cherheit eingeengt, und moöchte man nicht lieber
einige Gefahr laufen, als ſich unaufhoͤrlich durch
Vorſichtsanſtalten im Genuſſe der Freiheit be-
ſchraͤnkt zu fuͤhlen?“
„Da haben Sie recht, Ab⅛bate — fel Carowell
ein — es iſt ein wahres Schnuͤrbruſtleben heutzu-
tage. Mit dem weißen Barte noch ſtehen wir im
Gaͤngelwagen, und um keinen Finger zu verſtau-
chen, verkruͤppeln wir uns den ganzen Koͤrper. Ich
lobe mir die Alten mit ihrem Fauſtrecht und ihren
Hexenmeiſtern!“
„Aber die Peſt, mein Freund, die Peſtt.
unterbrach ihn Frauf von Mosheim.
„„Dafur kannte man die Pocken nicht — antwor-
tete Carowell — und dann iſt es doch ein ſchnel-
ler Tod, nicht, wie heutzutage, wo man erſt noch

ein paar Jahre lebendigtodt ſehn muß, bis man

eigentlich zu ſterben das Gluͤck hat. Alles iſt in un-
ſern Zeiten ſo fragmentariſch; nichts erſcheint mehr
als ein großes Ganzes, und darum bietet es auch
dem Dichter und dem Kuͤnſtler keinen Stoff dar.
Was iſt von allen unſern Krankengeſchichten zu er-
 
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