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Charis: rhein. Morgenzeitung für gebildete Leser (2) — 1822

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No 27-34 (April 1822)
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Charis.

Rheiniſche Morgenzeitung fuͤr gebildete Leſer.

44

NL 32.

+ +—4 —.

Des Kaplans Ausmarſch.
Biographiſches Fragment v. Peregrinus Proteus.

(Beſchluß.)

„Gluͤcklich bin ich — ſprach Heinrich gefaßt. — Glaub-
mir, Herrmann! ich betrachte jezt die Vergangen-
heit mit ihren Leiden aus einem hoͤheren Standpunkte.
Und was ich erlitten, iſt ja doch nicht werth, ver-
glichen zu werden mit dem Genuſſe der Bruder⸗ und
Mutterliebe. Darum bin ich gluͤcklich. Koͤnnte ich
nur auch den Vater — — — “
„Heinrich — ſiel Herrmann bittend ein — laß
das. Du kennſt den Vater. Er liebt dich gewiß mit
redlicher Treue, wenn er auch ſtrenge, uͤberſtrenge
iſt. Aber ſiehe jezt, wenn du im freien Wirkungs-
kreiſe als Mann dich bewaͤhrſt, — dann wird er
dich kennen lernen, und ehren. Eine Ahnung da-
von hat er gewiß ſchon heute.“
„Wollte Gott, du haͤtteſt Recht, Herrmann —
ſchloß Heinrich. — Nur deiner, geliebte Seele!
werde ich immer gewiß feyn. In truͤben Stunden
wird deine Liebe mich erwaͤrmen!“ — Sie umarm-
ten ſich nochmals.
O was iſt doch Bruderliebe; — — Es ſucht der
Sterblicht ſo lange, ſo weithin den Spiegel ſeines
Ichs, und den kbſtlichen Edelſtein der Seelenhar-
monie; — ach, er glaubt den Mutterwinken der Na-
tur nicht, bis das Herz von Sehnſucht nach Liebe
faſt vertrocknet iſt. Dann kehrt er zuruͤck aus der
Wuͤſte zum Brunnen der Familienliebe, — und
trinkt in langen Zuͤgen den Lebenstrank, — und
nie gefuͤhlte Wonne, Friede und Wuͤrde ſchwellt die
ſiech geweſene Bruſt. — — Heil dir, wenns zu
dieſer Kur nicht zu ſpaͤt fuͤr dich iſt! — Es giebt

P mC““““-˖-

Samstag, den 20. April



1822.

+ . —

einen Augenblick, wo der Kummer ſchon zu tief in
dir ſich eingefreſſen, und wo das Gefuͤhl getaͤuſchter
Liebe dein weiches Herz aufgezehrt, und nur eine
duͤrre Schaale uͤbrig gelaſſen hat, — wo du auf
dem Iſolatorium des allerbitterſten unaustilgba-
ren Hohnes von Welt und Freude getrennt ſteheſt.
Dieſen ſchwarzen toͤdtlichen Augenblick bringt oft
eine einzige recht kalte Froſtnacht im Mai deines
Wirkens fuͤr die Menſchheit, oder deiner Freund—⸗
ſchaft, oder deiner erſten Liebe. Er macht den Men-
ſchen oft unfaͤhig Familienfreuden noch zu genießen,

und haſt du ihn einmal erlebt, du Armer! dann

ſchleppſt du dich ſelten mehr zum Lebensbrunnen.
Noch zwei Tage blieb nun Heinrich im Eltern-
hauſe. Reiſefertig war er. Sein weniges Gepaͤcke
ſollten die St. Lener ſelbſt von Leonberg abholen.
Es waren ja nur acht Stunden; — und wie ge-
ſchmeidig und nachgiebig werden nicht Gemeinden
durch Jahrelange Vakaturen der Pfarreten. Wie
gut und freundlich wird da nicht der neue Seelſor-
ger empfangen, er ſey, wie er welle! denn er er-
ſcheint ja der verlaſſenen Gemeinde, die ſchon ver-
zweifelen wollte, wie ein Regenbogen nach der Suͤnd-

fluth, und wie eine Abſolurion nach langer ſchwerer
Bußzeit, waͤhrend welcher man die Suͤnden gegen

den Vorfahrer ſattſam erkennen und bereuen konnte!
— Darum iſt es von den Selbſtkircher Herrn eine
herrliche Maßregel, keinen erledigten Pfarrdienſt
eher zu beſetzen, bis Deputation auf Deputation
ſie uͤberzeugt, daß nunmehr die Gemeinde ihr Be-
duͤrfniß, einen Geiſtlichen zu haben, vollkommen
einſehe, und ſich, um nur wieder einen zu bekom-
men, gern Alles gefallen laſſe.
Am Mittwoch Morgen ſteckte der Kaplan ſeine
 
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