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Charis: rhein. Morgenzeitung für gebildete Leser (2) — 1822

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No 79-87 (Oktober 1822)
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Charis.
Rheiniſche Morgenzeitung
uen d

Bote vom Neckar

und Rhein.

Vereinigtes Unterhaltungsblatt fuͤr gebildete Leſer.

ISIꝗIIIIICI- IIII *

No 87.

&ÆN& SSS

Marie.
Beſchluſß⸗.
7.
+ Den 2. November.
Es iſt vorbei! Du koͤmmſt zu ſpaͤt! — Ehe die

Sonne ſich zum Untergang neigt, ſchlaͤft Dein
Adolf den ewigen Schlaf, nie mehr wird er er-
wachen, ruhig wird er werden, wenn ſein Herz
nicht mehr ſchlaͤgt, wenn Dunkelheit um ihn herrſcht.
Die Klagen einer troſtloſen Mutter werden ihn
in ſeiner kuͤhlen, finſtern Kammer nicht mehr er-
wecken. — Doch zuvor noch einige Worte, an
Dich, mein lieber Guſtav! Einfach will ich Dir
erzäͤhlen, was ſich ſeit meinem lezten Brief mit
mir zutrug. — Marie gieng ohne Wiederrede
mit mir zu Viktorien. Dieſe war im hoͤchſten
Grade freundlich und artig mit ihr. Sie lud
Marien beim Abſchiede ein, ſie oͤfters zu beſuchen.
Marie fand Wohlgefallen an Viktorien, die all
ihre Liebenswuͤrdigkeit aufboth, ſie fuͤr ſich zu ge-
winnen. Beide ſahen ſich taͤglich. Marie wurde
auch freundlicher gegen mich;, und geſtand mir
ſogar in einer heitern, harmloſen Stunde, ſie habe
mich verkannt, und Unrecht gehabt, dem Stadt-
geſpraͤche zu glauben. Viktorie ſey nicht im gering-
ſten, was ſie in den Augen der Welt ſcheine, und
mein Verhaͤitniß zu ihr, nicht das, was ſie ge-
glaubt habe. — Bei dieſen Worten verbreitete
ſich eine holde Rö he uͤber ihr himmliſches Antlitz,
ſie ward ſo gut, ſo mild, ſo engelgleich, daß ich
uͤberwaͤltigt von Scham und Reue zu ihren Fuͤßen

Mittwoch, den 30. Oktober,

1822.

IIII IS SSI

ſank, ihr alles bekennen, ihr verſprechen wollte
nie mehr Viktorien zu ſehen, ihr allein anzugehoͤ—
ren. Doch ſie ließ mich nicht zu Worte kommen,
ſanft zog ſie mich an ihre Bruſt. Dies waren die
lezten ſchoͤnen Augenblicke meines Lebens! — Kei-
ne Ahnung von den Schreckniſſen des Abends
durchzuckte uns! — Da ward Marie zu einer
Jugendfreundin, die ſchon lange kraͤnkelte und de-
ren Hinſcheiden man ſtuͤndlich erwartete, gerufen.
Ich begleitete ſie, bis an das Haus der Sterben-
den, ſie bat mich nicht allein zu bleiben,‚ Viktorien
zu beſuchen die Marien auf den Abend zu ſich ge-
laden hatte, ſie zu entſchuldigen, und ſtatt ihr den
Abend dort zuzubringen. — Ich gieng, fand
Viktorien allein, und entſchuldigte meine Braut.
Stumm und in Gedanken verloren, ſaß ich
neben ihr auf dem Sopha, da unterbrach ſie das
Stillſchweigen und erzaͤhlte mir, daß ſie beſchloſſen
habe, in einigen Wochen die Stadt zu verlaſſen,
und nach Berlin zu reiſen, um den Winter dort
zuzubringen. Sie war ſo traurig geſtimmt, Thraͤ⸗
nen glaͤnzten in ihren Augen, als ſie vom Ab-⸗
ſchiede ſprach, ſie zog mich mit Innigkeit an ſich,
preßte ihr Herz an das Meine. Ihre Lippen be-
ruͤhrten meine Wangen. Da erwachte die alte Be-
gierde. Das reitzendſte Weib lag in meinen Ar-
men, meine Sinne ſchwanden — und ich ward an
Marien zum Verraͤther. — So entflohen Minu-
ten des ſeli ſtens Taumels — ploͤtzlich weckte mich
ein Schrei aus meiner Betaͤubung. Ich ſprang in
die Hoͤhe urd ſah Marien zu Boden ſinken —
Ihre Freundin war geſterben, ſie wollie mir da-
 
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