Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

DOI Heft:
Heft 5
DOI Artikel:
Biermann, Georg: Neue Arbeiten von André Derain
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0240

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Könnens ihre Kräfte. Ein bezauberndes Bild für jeden, den die Realität des politifdjen
Lebens nid)t beeinflußt und der unvoreingenommen den Catfad)en ins Gefickt zu
[djauen vermag. Diefe nämlich gründen fid) auf den überall zutage tretenden Um-
fdjwung innerhalb der künftlerifchen Gefinnung unferer die nad) den Extremen
weit ausholender Patßetik im Geiftigen, langfam wieder den Anfd)luß an die Ver-
gangenheit und damit an die Natur felbft fud)t, ohne die vielen neuen Möglichkeiten
des lebten Strebens nach Vertiefung und die Ergebniffe eines nicht minder neuen
malerifd)en Stiles zu verleugnen, Ulenn wir dabei in unferen Beobachtungen nid)t
fehlgehen, folgt der franzöfifche Mater diefer 3eit ftärker den Beifpielen einer ge-
wiffen Tradition, die feit Jahrhunderten in diefer Raffe verborgen ift, indem er vor
allem die Schönheit des Klanges, das Sinnliche der Farbe felbft zu ergründen und
darzuftellen bemüht ift, während umgekehrt der deutfche Künftler mehr die Plaftizität
der Erfdjeinung fudtjt, die zwar die Farbe als Mittel, aber nicht als Endzweck des
Geftaltens benutzt, derart, daß, malerifch gewertet, im Sinne jener von den Franzofen
propagierten „culture de la peinture“ der Deutfche ohne weiteres ins Hintertreffen
gerät, um auf dem ihm von jeher befonders vertrauten Gebiete formalen und linearen
Äufbaus — feit Jahrhunderten ift diefer Gegenfab auf allen Gebieten der bildenden
Kunft evident — gewaltig aufzuholen.
Dabei find die Franzofen vom Schlage eines Derain ficher keine fd)led)teren 3eid)ner
als unfere derber zupackenden deutfchen Künftler. Äber während die lebteren vor
allem den fcharfen Umriß der Kontur als Faktor feelifchen Ausdrucks betonen, gibt der
Franzofe zwifdjen den Linien faft unbewußt die ganze finnliche Fülle des Volumens
preis. Segnungen von Derain haben — um dies koftbare Beifpiel feftzuhalten —
immer etwas von einer reifen, fchwellenden Frucht. Denkt man im Gegenüber etwa
an Heckei oder Beckmann, fo fühlt man beinahe die Anatomie der Körper mit aller
Deutlichkeit als Mittel feelifcher Extafe. Nehmt nur zur Verdeutlichung deffen, worauf
es ankommt, die fd)wellende Fülle der Kathedralfkulpturen von Rheims im Gegenfab
zu den Stifterfiguren des Naumburger Doms oder die eckig gebogene Verzücktheit eines
Grünewald zu dem weichen melodifchen Klang des zwar bedeutend fpäteren Pouffin
oder aus früherer 3eit das tUerk des deutfchen Memling zu den gleichzeitig in Burgund
entftandenen Miniaturen und Cafelbildern und il)r wißt, was gemeint ift. Boucher ift
immer Franzofe wie fein Urenkel Derain, und wenn fid) auch die deutfche Kunft des
Rokoko oft und manchmal, wie wir heute wiffen, mit durd)aus feibftändigem Elan be-
müht haL diefen und anderen Beifpielen nachzufolgen, der ünterfchied ift immer offen-
bar, genau fo wie der Urennungsftrid), der die Raffen voneinander fd)eidet.
Crobdem ift es gut, daß fid) die Völker gerade im Künftlerifchen erkennen lernen
und gegenfeitig — wollend oder nicht — durd)dringen. Daß wir aber im Gegenfab
zu der Epoche des lebten Impreffionismus, der durchaus franzöfifche Erfindung und
Import innerhalb der deutfchen Kunft gewefen ift (Manet-Liebermann), heute wieder
innerhalb einer gemeinfamen geiftigen 3»elrid)tung fo ftarke iüefensunterfchiede feft-
ftellen können, beftätigt uns das unerhört impulfive Verlangen nad) lebter Manifeftation
der eingeborenen künftlerifchen Kraft auf beiden Seiten. Derain ift für uns, vielleicht
wie kein anderer franzöfifd)er Maler diefer Epoche, Ausdruck des franzöfifd)en In-
ftinktes und gerade deshalb auch doppelt liebenswert, weil er die große Cradition feiner
Raffe im Blute hat. Von ihm aus über Ingres den Schritt ins Rokoko zu machen, ift
eine leichte Sache; denn von beidem befifet er mehr als taufend Blutstropfen in fid).
Sieht man feine 3eid)nungen mit der Attitüde ererbten Klaffizismus’, weiß man wie von
felbft, wie diefer Künftler mit dem leid)t befcßwingten Stift einen Ingres felbft da fcßon
in fich verarbeitet hatte, als er vorübergehend noch dem Kubismus gewiffe Konzeffionen
machte. Und taftet man danach mit dem Auge feine \)err\id)en Aquarelle ab, die an
Abbreviatur der malerifd)en Handfchrift das Außerfte verfudjen, dann fühlt man un-
willkürlich die ganze Tradition der „grands pastdlistes“ des 18. Jahrhunderts auf fich

216
 
Annotationen