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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 6
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Cohn, William: Indische Kolonialkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0320

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IV.
Ohne die Kolonien ift das Bild indifdjer Kunft unvollftändig. Die Verhältniffe find
ähnliche, wie etwa die der griedjifdjen Kolonien in Kleinafien zum Mutterlande. (Hie
der große Altar zu Pergamon als einheitliches Ganzes erdacht in Griechenland felbft
nicht feinesgleichen hatte, ebenfowenig in Indien der Änandatempel zu Pagän in Burma,
der Cempel Angkor-Vat in Kambodja, der Stupa von Borobudur und die Loro-Jonggrang-
Gruppe auf Java. Die Blüte der Kolonialkunft, verglichen mit der der Feftlandskunft,
verhält ßch etwa wie Barock zur Klaffik. Auch hier ganz ähnliche Entwicklungsvorgänge
wie im (Heften. 3um (Hefen des Barock gehört Großartigkeit der architektonifcßen
Anlagen, eine mehr nach außen gerichtete Religiofität, Freude am reichften Dekor
ornamentaler und figürlicher Art, alles auch bezeichnende Eigenfchaften der indifchen
Kolonialkunft. Ihre innere Verwandtfchaft mit dem europäifdjen Barock beruht natürlich
nur auf Konvergenzerfcheinungen. (Hirkliche Beeinfluffungen von dem fernen (Heften
her hat fie nicht erfahren. Das muß eigentümlicherweife ausdrücklich betont werden.
Denn der angebliche „Siegeszug der Antike“ bis in den fernen Often hin durch Ver-
mittlung der Kunft von Gandt)ära und 3entralaßen foll auch die indifchen Kolonien
berührt haben. In der Architektur ift davon nicht die geringfte Spur zu bemerken, und
in der Plaftik, wenn überhaupt vorhanden, kann es ßd) nur um ganz unwefentliche
3üge handeln. Europa-zentrifche Übertreibungen kunftblinder Einflußfchnüffler! Statt
ihnen nachzuhängen follte man fich lieber vorurteilslos in die Eigenart diefer gewaltigen
in fich gefchloffenen Kunftwelt vertiefen. Man ftelle fich einmal vor, wie es um das
8. und 9. Jahrhundert hier im fernften Often künftlerifch ausfah! Im Bau oder bereits
vollendet war der Stupa von Böröbudur, die Stadt Pagän in Burma mit ihren zahllofen
Cempeln, von denen noch heute an taufend aus allen 3eiten bis zur 3erftörung im
13. Jahrhundert erhalten find, ebenfo die großartigen Anlagen von Angkor-O)om, deren
Mittelpunkt der Bayon-Üempel (Abb. 8) ift. In Ceylon wurde gerade Polonnäruva zur
neuen glanzvollen ßauptftadt erkoren. Gleichzeitig h°b man auf dem indifchen Fcft-
lande den märchenhaften Kailäfatempel von Ellorä aus dem Felsgeftein aus und fchmückte
die Fjöhlen von Elephanta mit einer der hinreißendften Gottheitsgeftaltungen, die je
religiöfe Phantafie hervorbrachte. Laffen wir unfere Augen noch weiter nach dem Often
fd)weifen, fo feheri wir in China die glänzende C’angdynaftie am Ruder und in Japan
Nara und fpäter Kyoto mit ihrer Bautenfülle erftehen. (Has l)at das damalige Europa
diefem vielleicht nie und nirgends wieder erreichten Glanze entgegenzuftellen! Erwägt
man noch, daß damals auch der Islam einen feiner Höhepunkte fah, fo fchrumpft
Europa wirklich zu einem 3ipfel Afiens zufammen, wie er es in der Cat in höherem
Grade war als mancher heute ahnt. Es kann nicht oft genug wiederholt werden, daß
der weftländifcße Kunftforfcßer und Kunftfreund von diefen Dingen nicht bloß nebenbei,
fondern ernftßaft und achtungsvoll Notiz nehmen möge, und dies nicht etwa nur vom
ettjnologifchen oder religionsgefchichtlichen Standpunkt, fondern vor allem vom Stand-
punkt der Kunft. Sogar in den indifchen Kolonien, in diefen fcheinbar weltabgelegenen,
von dunkelhäutigen Menfchen bewohnten Gegenden, die auf unferen verzeichneten
Landkarten einen fo kleinen Raum einnehmen, in (Hirklichkeit aber eher ein ganzer
(Heltteil für fich find, gelangen Kunftfchöpfungen, die den Vergleich mit den höchften
Leitungen der (Heltkunft aushalteri können.

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