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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 10
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Schmidt, Paul Ferdinand: Runge und die Gegenwart
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0487

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gegenzuhalten: am Anfang des 19. Jahrhunderts gab es keine andere Möglichkeit Pid)
auszudrücken, als mit der gehämmerten Linie des „klaffiziftifchen“ Umriffes, deffen Pich
fo Flaxmann wie Carftens, Genelli wie Runge und alle grenzenlos ftrebenden Geifter
bedienen mußten. Auf die Vißion kommt es an, auf den Untergrund des Erlebniffes:
und das war bei Runge die welttiefe Myftik der Romantik, die nicht zu begrenzen
ift wie die Realität irgendwelcher chriftlicher Legenden, mochten Pie Raffael, die Car-
racci oder die Lucasbrüder malen. Klas Runge in die kriftallene Klarheit feiner Linien
fangen konnte, war, das kann nicht dringend genug betont werden, ein Gleichnis von
Gott und der Kielt; und deffen war er fich mit einer Sicherheit bewußt, wie fie auch
fonft die größten deutfcßen Formfucher auszeichnet. Diefe „Klarheit und fjimmels-
heiterkeit“ ift es, die ihn befähigte, das Grenzenlofefte, das Unendliche felber in eine
Vierzahl beftimmt umgrenzter Sätje zu faffen, gleich einer Beethovenfchen Symphonie;
ein Vergleich, der auch dem Scharfblick von Sulpiz Boifferee fid) allfogleid) aufdrängte,
als er die „Cageszeiten“ zum erftenmal, bei Goethe im Mai 1811, zu Gepicht bekam.
Die kriftallene Ordnung des künftlerifchen Gefühls und ihre Auszahlungen in die
Materie pind es in Klarheit, die uns an dem Genie Runges mit fo magifcher Gewalt
anziehen. Uferlofe Schwärmerei und kritifdje Ironie pind das Kennzeichen der meiften
Romantiker; fchöpferifd)e Difziplin bis zur bitteren Probe eignet keinem von ihnen,
nicht einmal Novalis oder Fjölderlin, in dem Ausmaß wie Runge. Diefe Vereinigung
myftifd)en Sehertums mit bildnerifchem Ordnungsßinn macht ihn fo außerordentlich zeit-
gemäß. Denn wenn wir unferem Verlangen bis auf den Grund gehen, fo finden wir
zweierlei Forderungen, welche unfere heutige Kunft in ihren Spieen, freilich nicht alle-
mal vereinigt, erfüllt: konftruktive Klarheit und Überfd)wang der Kleltdeutung. Die
Fjüter einfeitiger Ordnung pind und bleiben die Franzofen: ihnen fehlt dafür „des Dich-
ters fchöner Klahnfinn“, bis zur Nüchternheit. Klo aber die Deutfchen (und die ihnen
geiftesverwandten Völker des Oftens und Nordens) über die Gefühlsekftafen häiaus-
gehen bis zur Strenge einer ard)itektonifd)en Bindung, da vermögen fie, fo fcheint es
mir wenigftens, das Fjöchfte zu erreichen, deffen die Kunft der Gegenwart fähig ift.
Man kann fo verfd)iedenes Beftreben darin begreifen wie das Schmidt-Rottluffs,
Schlemmers, Klees, G. Grosz’, Dix’, Baumeifters, der rufPifchen und anderen „Kon-
ftruktiviften“: Dinge, die im 3ufammenhang — und befonders in dem 3ufammenhang
der vorliegenden Gedankengänge — noch kaum betrachtet worden find. Aber es ift
immer die Sonderart deutfcher Kunft gewefen, daß, wenn fie für einen großen Gehalt
eine befonders fefte Form fuchte, ßie ßid) in vielen möglichft unkenntlichen Verklei-
dungen verbarg. So ift es auch einem rationaliftifchem Betrachter außerordentlich
fchwer begreiflich zu machen, was Philipp Otto Runge mit Schmidt-Rottluff oder Bau-
meifter zu tun habe. Ganz zweifellos: direkt und optifcl) überhaupt nichts. Aber die
Kunft befteht am Ende nicht bloß aus vollendeter Peinture und raffinierten Klirkungen
auf die Retina. Und fo wird, neben der Entdeckung der fpinnenfeinen Fäden geiftiger
Art, die Runges Romantik mit der Gegenwart verbinden, und die bereits Künftler wie
Baumeifter mit einem wahren Enthußiasmus ganz für Pich entdeckt haben, ein mate-
rielleres Band um fo weniger überfehen werden können.
Dies ift die Farbenlehre Runges und ihre Anwendung auf feine Malerei. Auch
hier ift es unmöglich, das Optifd)e von der ihm innewohnenden Romantik zu trennen:
wie er die Grundfarben Gelb, Blau, Rot als Gleichungen der Dreieinigkeit empfindet,
Kleiß und Schwarz als das Gute und das Böfe, und wie ihm weiter die Farben
feeiifche Schwingungen auslöfen; denn dies gerade ift es, was ihn mit einem Schlage
neben Kandinfky und die neuere Farbenromantik ftellt. Die Konftruktion einer Farben-
kugel mit den Polen Schwarz und Kleiß und dem Äquator der reinen Farbenfkala, die
pich nach den Polen zu jeweils aufhellt oder verdunkelt, und die Feftftellung von
3405 Nuancen von (Pigment-)Farben auf diefer Grundlage mag uns davon überzeugen,
wie hundert Jahre vor Oftwald fein vielgerühmtes Syftem von einem einfamen Künftler
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