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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 12
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Passarge, Walter: Das Vesperbild in der St. Martinskirche zu Bamberg
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0597

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plaftifcßen Schmuck, der am Mantel im [päteren 16. Jahrhundert erneuert zu fein
[cheint. Die Figur des Chriftus ift abhebbar. Das Ganze ruht auf fchlicßtem, niedrigem
Sockel.
Im Ausdruck ift die Gruppe ganz gedämpft. Mariens Crauer ift in milde Dleßmut
gelöft, ein fcßmerzlid) entrücktes Lächeln fpielt um ihre Lippen. Sie ift noch halb die
junge Mutter, die fiel) über den fchlummernden Knaben beugt. Nur die Äugen
fchwimmen in Dränen, die den Blick verfd)leiern. So ift ein feltfamer Schwebezuftand
zwifeßen Verträumtheit und Klage, bitterem Schmerz und feligfüßer Erinnerung in
leifefter Andeutung zu plaftifcßem Leben erweckt. Beim Coten, der ganz ftill und
friedlich daliegt, find alle Leidenszeichen nahezu gelöfd)t. Cüelten trennen diefen Cypus
der Marienklage von jener fcßreckhaft-monumentalen Form, wie fie am früheften im
Fragment zu Coburg (aus Steuerfeld) uns entgegentritt. So fehr beide auch in Einzel-
formen — wie in der fjaltung Mariens, in dem langen Lendentuchzipfel — auf ein letztes,
gemeinfames Urbild verweifen. Nur die klaffende Bruftwunde, die leichte Einzeichnung
der Rippen, die Äuffcßürfung der Füße, vielleicht auch die Spuren einer großen Bluts-
traube künden noch von der Qual des Martertums.
ünfagbar zart und fein ift die Art, wie Maria die ßaad des Sohnes berührt. In
zager Scheu ftreift fie ihn kaum mit ihren Fingerfpißen. Es ift eine Empfindung, wie
fie in etwas anderer DIeife bei den früheften, vorwiegend feßwäbifeßen Gruppen von
Chriftus und Johannes anklingt, ein faft elektrifcßes Überftrömen von Gefühl, eine letzte,
innige Berührung.
Innere Gefchloffenheit, Mäßigung im Ausdruck des Seelifcßen, Fjang zu lyrifcßer
Kontemplation find im Künftlerifcßen Kennzeichen feßwäbifeßer Stammesart. In der Cat
weift das Bamberger Vefperbild ftiliftifch nach dem deutfehen Südweften, genauer: nad)
der Bodenfeegegend. Mit den Figuren des Johannes und der Maria im Stuttgarter
Ältertümermufeum1 und dem verwandten Fragment einer Marienklage aus Radolfzell
im Erzbifchöflichen Mufeum zu Freiburg i. B.2 teilt das Stück die überfcßlanken Pro-
portionen und die feßarfgratige, zeießnerifeße Behandlung der Falten. Die Struktur des.
Mantelwurfs ftimmt mit der Radolfzeller Arbeit wörtlich überein. Im Kopf Mariens ift
die Bamberger Gruppe weniger edel, voller, bürgerlich derber, von plaftifcß fcßwellen-
der Dleicßßeit der Formen. Beide DIerke gehören zweifellos einem Cypus an, der
nach Größe, geiftigem Gehalt, Lage und Bildung des Leichnams fid) von dem Monu-
mentaltyp (Coburg, Erfurt, Straubing, Leubus) wefentlicß unterfeßeidet. Äußerlid) fcßon
dadurch, daß diefe intimere Faffung nicht an einen feften Ort gebunden war — fo
wird noch heute das Bamberger Vefperbild bei Prozeffionen mit im 3u9e getragen.
Bezeichnend für diefe Gattung ift befonders Größe, Lage und Geftalt des Chriftus, die
man fid) beim Radolfzeller Fragment fießer äßnlid) wie in Bamberg zu denken hat.
Damit gewinnt Pinders Vermutung, daß die Radolfzeller Marienklage der Gattung der
Maria mit dem kindßaft (oder knabenhaft) kleingebildeten Chriftus zugeßöre, erhöhte
Dlaßrfcheinlicßkeit3. Für die feßwäbifeße Herkunft |pricht zudem nod) die annähernd
parallele Führung der Arme Cßrifti, ein Motiv, das im Anfang des 15. Jahrhunderts
zahlreichen, nad) dem Vorbilde des öftlicßen Fjorizontaltypus gearbeiteten feßwäbifeßen
Vefperbildern eine eigene Note gibt, bei denen die fonft übliche Kreuzung der ßände
über dem Leib vermieden wird.
Die feßr noble Arbeit aus Radolfzell wird um 1330 angefe^t, unfer Stück in feiner
Dlendung zu derberer Lebensfülle wird etwas fpäter, um 1340 entftanden fein. Etwa
in die gleiche 3^it fefejt es Leitfcßuß, der als erfter die Bedeutung des Dierkes erkannte4.

1 Baum, Gotifcße Bildwerke Schwabens. 1921. C. 67.
2 Baum, a. a. 0. €. 79. Eine verwandte Arbeit findet fid) in den Städt. Kunftfammlungen dafelbft.
3 Pinder, Die Pieta. 1922. S. 5.
4 Leitfcßuß, Bamberg, 1914. S. 232 (Berühmte Kunftftätten, Bd. 63).

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