von dort an künftlerifcher Weisheit. Äber er hat dafür ein anderes: die Geburtswärme
men[d)lid)er Nähe, den Inftinkt für das Kleine, das Kliffen um den kummervoll gleich-
förmigen Alltag, der zum Spuk oder zur Demut wird.
Chagall ift Oftjude. So kommt in die barbarifdje Enge feiner Geburt und feiner
Umgebung ein Strom jartaufendalter Vergangenheit; die fd)were finnlid)e Breite des
Orients, verfeinert durch unzählige Geburten zur KIad)l)eit der Sinne, zu einer faft
weiblichen Reizbarkeit und überreifen Schwere; aber auct) durchlöchert durch die Müdig-
keiten langer Vertriebentjeit und diefe Qual des Verkommenfeins. Hinter Chagall fteht
das Schickfal der önterdrücktheit eines gehegten Volkes, verachtet, arm und zäh; mit
der Grauer um das zerftörte Jerufalem, der ewigen Sehnfud)t nach dem kommenden
Meffias. Von einer flackernden Geduld; zufammengeduckt wie eine Herde Schafe, um-
bellt, heimlich vergraben und verfchloffen; in der Giefe fchwebend. Das Bild des
eifernden Gottes, gewaltig und ftreng, voll Leidenfdjaft und Größe bis zum Graupgen
und Unerträglichen ift vergeffen. Äber doch lebt in Chagalls Bildern noch etwas von
der vifionären Derbheit des Alten Ceftamentes, von der Naturaliftik des Gottgefchehens
und der Geifterwelt mitten in der Enge des Alltags; diefe Draftik der Engelnähe, das
Nebeneinander von Verfluchtfein und Erhebung, von Uferlofigkeit und Genre, von
Wirklichkeit und Wunder.
Chagalls Eltern waren chaffidifd). Ihre Myftik durchzog feine Kindheit, überbaute
das arme Liosno mit Craum und befühlendem Mitleid. Eine Myftik brennender Glut,
des Verlangens nach der Herrlichkeit der Welt, mit der Verzweiflung und dem Pathos
des Unmöglichen. Keine Myftik kontemplativer Ruhe, der philofophifchen Würde, der
innigen Brautliebe oder der Weltentfagung; eine dunkel geheime Myftik des Harrens,
der Erwartung, der Bereitfchaft Äusgeftoßener und Bedrückter. Mitten im Alltag ein
Wunderglaube voller Notvertrauen und leidenfchaftlicher Demut; des Dienftes und
Opfers, des Rufens und des heimlichen Königtums; von einer dunklen maßlofen Grauer
und Inbrunft. Ein Glaube an Erfüllung und himmlifche Vollendung, wenn der in 3wei-
heit zerfallene Gott wieder vereinigt fein wird: das fern entrückte Gottwefen Elohut
und die Gottesglorie Schechina, die verftreut, irrend, abgetrennt in allen Kreaturen und
Dingen ift. Alle Enge und aller Alltag birgt plößlich unterirdifch und geheim die
irrende Glorie, wird durchleuchtet und einer andern Welt Geil. Die Erlöfung ift keine
Vernichtung und Entrücktheit, fondern Vereinigtfein und Erhöhung mitten in diefer
Welt. Eine Myftik der Gemeinfchaft und des Dienens zur Heimkehr der Glorie aus
der Verftricktheit. Enge und Gottweite, Kummer und Verheißung, Mühfal bunte
Himmelsvipon tief miteinander verfchränkt. Und in diefer Judengemeinfchaft birgt
noch ein anderes fleh: die kindliche Fröhlichkeit des Frommen und die Güte des
Beladenen; liegt diefer ßngende Ganz und eine Innigkeit, wie ße nur die heimliche
Verbundenheit des Blutes, des Sdpckfals und des Glaubens zu geben vermag.
Das ift Heimat und Herkunft von Marc Chagall: dem genrehaften Realiften aus der
ruffifchen Provinz und dem jüdifchen Vißonär.
Seine eigentliche menfchliche Konftitution ift dabei beftimmt von einer Pluralität der
Veranlagung, fo wie er felber ßch einmal — auf dem Parifer Bilde — mit einem
doppelten Geficht gemalt hat. Die eine Seite feines Wefens ift verfchloffen und fcham-
haft, fchwermütig, von einer innerlich zehrenden Leidenfchaft; phantaftifd), grüblerifch im
Blut, wundergläubig, explofiv; unterirdifch getrieben, leidend, wehrlos, und maßlos bis
zum unbedingt Fanatifcßen; troftbedürfttig, klein, voll Gottesfurcht und Weltfpuk.
Die andere Seite feines Wefens ift unerhört ßnnenverlangend, weltlich, fenforifd);
barock und blühend. Von tierifcher Schmiegfamkeit, rege, launifd) wie ein Kind;
weich und charmant, liebenswürdig fchalkljaft, untermifcht mit bäuerlich unwählerifcher
Derbheil und einer provinziellen Luft am Bunten, Grellen und Bewegten. Alles das
aber ohne Rafßnement, fondern mit einer unbewußten, naturhaften Sinnlichkeit, die
zwifchen Sentimentalität und panifdjer Dämonie fiel) austrägt, ünd diefe Weltlichkeit
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men[d)lid)er Nähe, den Inftinkt für das Kleine, das Kliffen um den kummervoll gleich-
förmigen Alltag, der zum Spuk oder zur Demut wird.
Chagall ift Oftjude. So kommt in die barbarifdje Enge feiner Geburt und feiner
Umgebung ein Strom jartaufendalter Vergangenheit; die fd)were finnlid)e Breite des
Orients, verfeinert durch unzählige Geburten zur KIad)l)eit der Sinne, zu einer faft
weiblichen Reizbarkeit und überreifen Schwere; aber auct) durchlöchert durch die Müdig-
keiten langer Vertriebentjeit und diefe Qual des Verkommenfeins. Hinter Chagall fteht
das Schickfal der önterdrücktheit eines gehegten Volkes, verachtet, arm und zäh; mit
der Grauer um das zerftörte Jerufalem, der ewigen Sehnfud)t nach dem kommenden
Meffias. Von einer flackernden Geduld; zufammengeduckt wie eine Herde Schafe, um-
bellt, heimlich vergraben und verfchloffen; in der Giefe fchwebend. Das Bild des
eifernden Gottes, gewaltig und ftreng, voll Leidenfdjaft und Größe bis zum Graupgen
und Unerträglichen ift vergeffen. Äber doch lebt in Chagalls Bildern noch etwas von
der vifionären Derbheit des Alten Ceftamentes, von der Naturaliftik des Gottgefchehens
und der Geifterwelt mitten in der Enge des Alltags; diefe Draftik der Engelnähe, das
Nebeneinander von Verfluchtfein und Erhebung, von Uferlofigkeit und Genre, von
Wirklichkeit und Wunder.
Chagalls Eltern waren chaffidifd). Ihre Myftik durchzog feine Kindheit, überbaute
das arme Liosno mit Craum und befühlendem Mitleid. Eine Myftik brennender Glut,
des Verlangens nach der Herrlichkeit der Welt, mit der Verzweiflung und dem Pathos
des Unmöglichen. Keine Myftik kontemplativer Ruhe, der philofophifchen Würde, der
innigen Brautliebe oder der Weltentfagung; eine dunkel geheime Myftik des Harrens,
der Erwartung, der Bereitfchaft Äusgeftoßener und Bedrückter. Mitten im Alltag ein
Wunderglaube voller Notvertrauen und leidenfchaftlicher Demut; des Dienftes und
Opfers, des Rufens und des heimlichen Königtums; von einer dunklen maßlofen Grauer
und Inbrunft. Ein Glaube an Erfüllung und himmlifche Vollendung, wenn der in 3wei-
heit zerfallene Gott wieder vereinigt fein wird: das fern entrückte Gottwefen Elohut
und die Gottesglorie Schechina, die verftreut, irrend, abgetrennt in allen Kreaturen und
Dingen ift. Alle Enge und aller Alltag birgt plößlich unterirdifch und geheim die
irrende Glorie, wird durchleuchtet und einer andern Welt Geil. Die Erlöfung ift keine
Vernichtung und Entrücktheit, fondern Vereinigtfein und Erhöhung mitten in diefer
Welt. Eine Myftik der Gemeinfchaft und des Dienens zur Heimkehr der Glorie aus
der Verftricktheit. Enge und Gottweite, Kummer und Verheißung, Mühfal bunte
Himmelsvipon tief miteinander verfchränkt. Und in diefer Judengemeinfchaft birgt
noch ein anderes fleh: die kindliche Fröhlichkeit des Frommen und die Güte des
Beladenen; liegt diefer ßngende Ganz und eine Innigkeit, wie ße nur die heimliche
Verbundenheit des Blutes, des Sdpckfals und des Glaubens zu geben vermag.
Das ift Heimat und Herkunft von Marc Chagall: dem genrehaften Realiften aus der
ruffifchen Provinz und dem jüdifchen Vißonär.
Seine eigentliche menfchliche Konftitution ift dabei beftimmt von einer Pluralität der
Veranlagung, fo wie er felber ßch einmal — auf dem Parifer Bilde — mit einem
doppelten Geficht gemalt hat. Die eine Seite feines Wefens ift verfchloffen und fcham-
haft, fchwermütig, von einer innerlich zehrenden Leidenfchaft; phantaftifd), grüblerifch im
Blut, wundergläubig, explofiv; unterirdifch getrieben, leidend, wehrlos, und maßlos bis
zum unbedingt Fanatifcßen; troftbedürfttig, klein, voll Gottesfurcht und Weltfpuk.
Die andere Seite feines Wefens ift unerhört ßnnenverlangend, weltlich, fenforifd);
barock und blühend. Von tierifcher Schmiegfamkeit, rege, launifd) wie ein Kind;
weich und charmant, liebenswürdig fchalkljaft, untermifcht mit bäuerlich unwählerifcher
Derbheil und einer provinziellen Luft am Bunten, Grellen und Bewegten. Alles das
aber ohne Rafßnement, fondern mit einer unbewußten, naturhaften Sinnlichkeit, die
zwifchen Sentimentalität und panifdjer Dämonie fiel) austrägt, ünd diefe Weltlichkeit
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