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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 16
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With, Karl: Marc Chagall
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0763

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durchschauen, die im Gebet vor Gott leben, feine Gebote galten und Klacke üben; in
der Strenge des Gefetjes und in der Gleisheit Salomos.
Älte fromme Leute, die die Erde überwunden haben, durch) die GJunderftille ziehen,
durch) die Lüfte fliegen, zwifchen Fjimmel und Erde wandern, durch die Städte ziehen,
hier und dort zu gleicher 3eit. Entbunden von allen Fjabfeligkeiten, voll unterirdifcher
Glut. Die Glache galten vor der Grauer der Juden, die vom himmlifchjen Jerufalem
wiffen, von den Verbrechen der kleinen Seelen und der ewig irrenden Gottesglorie.
Das wandernde Gewiffen des Volkes Ifrael, dunkel und ftreng wie der „Fromme Bote“
in Dybuk, fchweigend und zur Gland gekehrt. Deren Gehen ein Ganzen und Schweben
ift, ruhvoll und eintönig, klagend und erdentbunden.
Noch) einmal malt er eine fjoctjzeit; derb und bäuerifch). Aber nicht mehr den auf-
gepu^ten Grubel, [ondern Mann und Gleib, die ein Engel zufammengeführt; und im
Baum fitjend, klein und verftohlen, ein Mufikant mit der Geige; Mufik weither und
unwirklich. Es ift die Gleit des Baalfdjeem und des großen Maggid, die in Chagall
erwacht ift. Die Gleit der Legende und des Glunderbaren, das mitten in der derben
Glirklichkeit pd) auftut.
Daneben entfteht bei Chagall das Epifcp-Breite und das vom Menfchen Abgelöfte
der Landfchaft und der Stadt. Nicht mehr Liosno, fondern das breitere und präch-
tigere Glitebsk mit feinen Straßen und Fjäufern, kuppeligen Kirchen und feiner bizarr
bewegten Silhouette; ein Kirchhof, ein Garten, ein einzelnes Fjaus. Volkstümlich) klar
gefehen mit pellen kräftigen Farben; organifd) aufgebaut. Ein wenig traumhaft wie
ein Glunderliches und Verfunkenes. Aber belebt mit jeglicher Seele der Dinge, und
mit all den Schnörkeln der eigenwilligen Realität. Es pnd Stellen in diefen Bildern —
etwa ein 3aun, ein Baum, ein fchjiefes Dach) — aus denen, mitten aus ihrer realen
Natürlichkeit heraus ein feltfames fernes Leben leuchtet.
Das fprühend Leidenfchaftliche fcheint überwunden. Er fcpwingt leichter und freier
aus, den Dingen angeglichener. Er fühlt die Balance von Nah und Fern, von Schwere
und Lichtheit; er hat das Ruhende entdeckt, das Verweilen, Verharren, ja das Behagen.
Der überlaftete Alltag liegt in der Ferne, zu Gode gehest von Krieg und Dummheit.
Diefe kleinere Gleit ift 3ußuch)t und die Glirklichkeit felber, in fleh) beruhend, beflügelt
wie ein Glunder. 3um erften Male ift in feinen Bildern die Gleite, die Fülle und die
Eindringlichkeit des Gefehenen.
Aus diefer füllen Gebundenheit greift ihn ein neuer Raufch heraus; kein explofiver
und wilder Raufch), fondern ein feftlicher und prahlender. Der feine ümwelt nicht er-
fchüttert und zerreißt, fondern ins ünendlicpe dehnt und feftigt. Es ift das Erlebnis
der Frau. Blühender und offener als was er je erlebt, geheimnisvoller als alles, was
er je gefehen, und enthobener als alle Vipon. Erft jetjt wird die Gleit ipm Eigentum,
im Begehren, im Genuß und in der Gelößheit; erft jetjt geht er ganz in feinen Körper
ein und fteigt aus feinem Blut in die F)öhe. Fjier ftepen die Gleit und er im Glecpfel-
fpiel des Gegenfeitigen; nicht mehr im Verhältnis von Vater und Sohn, fondern von
Ich und Du. In der Frau ift die Gleit für ihn zum Gegenpol geworden.
Er felbft — Marc Chagall und feine fdpöne Frau. Selige Sentimentalität der Be-
rührung, triumphierendes Pathos des ihm Alleingehörigen, ßier fcpwebt er felber durch)
die Luft, zum ünmöglichen Ipugeriffen, in den F)immel gehoben ohne Flügel; ein
Glundermagier des Genuffes. Die Erde hat nicht Raum genug; jetp ift ein großer
Fjimmel in feinen Bildern. Glie er über die Dächer der Stadt hingleitet, feine Frau
im Arm! Glie fch)webt feine Frau herauf und hinunter! Glie weit pnd diefe Arme
ausgebreitet, greifen durch) die Glolken, tanzen durch) die Gleite. In pellen Farben,
knifternd und morgendlich). Gleich) ein Kavalier; welch) Eros! Ein Gleltmann und ein
Faun, reitend auf den vollen Schultern diefer Frau, hoch über Glaffer, Brücke, Schloß
und Kirche; übermütig und erhifet, ungefättigt und fchmeichelnd; ein wenig in den
Liefen voll Geifterangft und läfterlid). Lausbub und Pan, Engel und Glolluft; maßlos

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