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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 19
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Vondoerfer, P. E.: Gotische Meisterwerke der böhmischen Bildhauerkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0888

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zeidjen Rändle1, mag berechtigt [ein; daß das Relief den vom Rumpf getrennten Kopf
eines Hingerichteten darftelle1, ift jedoch nicht waßrfcßeinlich. Vielmehr läßt der Cha-
rakter der Darftellung auf eine Nachbildung des Kopfes eines auf dem Cotenbett
Liegenden fchließen, welche die Angehörigen eines verdorbenen Hausbefifeers anfertigen
laßen und als Gedenkzeichen, am Haufe angebracht, verwendet haben dürften.
Das grob ausgeführte Haupt- und Barthaar zeigt noch die verfchwindenden Merk-
male der Stilifierung. Hingegen pnd der genial eingekerbte Mund, die kantig aus der
Linie des Stirnknocßens ßervortretende, feßarf gefchnittene Nafe, die hervortretenden
Backenknochen und die leblos zugefunkenen Äugen, letztere immerhin noch ftilißert, in
überzeugender Naturtreue, vollkommen realiftifcß wiedergegeben. Äls Entftehungszeit
möchte ich nicht den Anfang des 16., wie angegeben, fondern zumindeft die zweite
Hälfte des 15. Jahrhunderts feftftellen.
CCIie bereits dargetan, fchwingt der energifche GCIille zur Entfaltung eigener Stilgeftal-
tung namentlich in den Darftellungen der Pieta kräftig aus. Die Cotenftarre des Leibes
des Heilands wird durch eine eigenartige, neu beobachtete Steifheit hervorgehoben, der
Leib felbft kommt in ein oft faft unnatürliches Größenverhältnis zur Geftalt Mariä,
indem die Körperlänge um Vieles diejenige der fißenden Mutter überfteigt, ein
fcharfer Kontraft zu dem oft ganz winzig kleinen, nicht feiten über die Größe eines
Kindes nicht hinausgehenden Chriftusleib der füddeutfeßen Schule. Bei den erften
böhmifchen Verfperbildern liegt der Oberleib mit den Oberfchenkeln in gerader, fteifer,
in fanfter Neigung feßräg verlaufender Linie auf dem Schoß Mariä, während die
Clnterfcßenkel fenkreeßt herabhängen2. Bei den fpäteren CCIerken, wie es jenes der
Prager Ceinkircße, jeßt im Mufeum der Stadt Prag, ift, werden aus zwei bereits drei
Richtungslinien des Körpers bemerkbar. Die erfte, die des auf dem rechten Schenkel
Mariä liegenden Rumpfes, die fchräg fanft nach abwärts gegen die Mitte des Schoßes
Mariä verläuft die zweite, die der eng zufammengefcßloffenen, auf dem linken
Schenkel Mariä ruhenden Oberfchenkel, welche faft wagrecht verläuft und die dritte,
die der CInterfchenkel, die fenkrecht nach abwärts hängen.
Der Faltenwurf der Gewänder wird reicher und die flawifchen Gefid)tszüge der um
den Sohn trauernden Mutter, äußerft vielfeitig im Ausdruck, geben dem Gefamtwerke
eine eigene Note.
Es wurde ja [cßon früher vielfach die Vermutung ausgefproeßen, daß der CIrfprung
diefer Vefperbilder überhaupt in Böhmen zu preßen fei. CInd das nicht mit Clnrecßt.
Denn vor allem war es in Böhmen üblich, die Vefperandacßt zu Ehren der feßmerz-
ßaften Mutter Gottes abzußalten und diefem Brauch fteßt woßl die Darftellung der
Pieta am näcßften. Daraus erklärt fieß übrigens auch die Bezeichnung „Vefperbila“.
Eine der früßeften und zugleich der feßönften bößmifeßen Vefpergruppen ift die der
ehemaligen Sammlung Georg Schwarz. Die Haltung Mariä und deren Geficßtsaus-
druck fpiegeln eine feltene, innere Abgeklärtheit und demutvolle Fügung ins (Unab-
änderliche wieder. Hier kommt der typifcß bößmifeße Charakter befonders deutlich
zum Ausdruck3.
Eine Kleinigkeit, fo geringfügig ße aueß feßeinen möge, fprießt hier für die bößmifeße
1 V. V. Stect) im bereits erwähnten Artikel.
2 Diefen Cypus zeigen z. B. die böbmifebe Vefpergruppe aus der erften Hälfte desl5. Jabrb- aus
gebranntem Con der ebem. Sammlung Georg Schwarz (Nr. 13 des Verft.-Kataloges Caffirer-Helbing
1917) und eine der ebem. Sammlung Jobann Ortb (Nr. 435 des Verft.-Kataloges Gebr. Heilbron 1912.
ülird dort mit Qnrecßt als kölnifcb, 16. Jabrb. bezeichnet).
s Fritj Goldfcbmidt bemerkt in feiner Befcbreibung im erwähnten Katalog: „Der flawifcbe Cypus
läßt eine Entftebung in den Oftfeeprovinzen (?) wohl möglich erfebeinen, doch ift eine böbmifebe
Herkunft wabrfcbeinlicber, zumal man in Böhmen das 3entrum diefer febr verbreiteten Vefper-
gruppen vermutet bat. Man vgl. Semrau in „Schießens Vorzeit“, N. F., IV, S. 71 ff. Stammt aus
dem Klofter Contino im Sarratbal bei Riva.“ tüieder ein Beifpiel für die Verbreitung böbmifeber
tüerke in oft ganz entlegenen Ländern.

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