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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 20
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Vondoerfer, P. E.: Gotische Meisterwerke der böhmischen Bildhauerkunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0947

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wärts gewandten Blick, wirkt wie ein Kiefen aus einer anderen Kielt. Der Hinter-
grund rechts Hinter den Deren, ein Felfen mit einer Burgruine und einem Bäuschen
darauf, ift das einzige, in Flachrelief ausgeführte Detail, welches zur malerifchen Ge-
famtwirkung der Darftellung ungemein viel beiträgt.
Die Gruppierung der in anzeigender Anordnung übereinander geteilten Figuren und
die breit gedrückte Geftalt des vorderen Engels verrät, wie auch Novotny fehr richtig
bemerkt, die Abficht des Meifters: daß der Befcßauer aus einer gewiffen Entfernung
und gleichzeitig unter der Gruppe ftehend, alles auf derfelben bis ins Kleinfte fehen
könne. Schon daraus gebt die Beftimmung diefes aus einem Block Lindenholz ge-
fchnihten KLIerkes deutlich hervor- Als bewegliches Einzelwerk ftand es zur Feier des
Kleißnachtsfeftes an befonderem Platte der Kirche, wie es diefer Brauch vorfchrieb,
denn es ift ficher, daß diefe Arbeit keinen Ceil etwa eines Altarwerkes, fondern ein
bewegliches Ganzes darftellt1. Es ift auch kein Relief im eigentlichen Sinne, denn die
Figuren find faft vollrund, im vollften Sinne plaftifd) ausgearbeitet. Die „Relief-
Arbeiten jener 321t ßnd nicht anders ausgeführt und erft fpäter wurden ße bildhaft
flach und erreichten fo den ihnen eigenen Charakter 2.
3wei böhmifche Flachreliefwerke, die ich hier zü bringen nicht verfäumen will, be-
finden pch ebenfalls im Befits des Stadtmufeums zu Prag. Es find dies äußerft cßarak-
teriftifche, fein durchgeführte, in ihrer teilweife realiftifchen Schilderung recht über-
zeugend natürlich wiedergegebene Darftellungen der Beweinung Chrifti. Ihr jetziger
3uftand ift leider nicht mehr der urfprüngliche, denn beide wurden vollkommen neu
bemalt refp. ergänzt. Das eine weiß behandelte Relief fcheint bedauerlicherweife die
urfprüngliche Schärfe der Linien und Gewandfalten eingebüßt zu haben 3.
Die lineare, ftrenge Anordnung und die faft parallele Haltung je zweier Geftalteu
der Gruppe läßt bei diefem Klerke (Abb. 3) auf ein höheres Alter fchließen; dem
widerfpricpt wieder die nichts weniger als ftarre Liniengebung des toten Leibes Chrifti,
aber die auffallende Stilifierung der Haare und Augen läßt doch nur die Annahme
einer früheren Entftehung gelten.
Scheidet man das Detail der Pieta, d. h- die Einzelgruppe der fißenden heiligen
Maria mit dem toten Heilandsleib auf dem Schoß von der Gefamtgruppe aus, fo er-
hält man ein klares Bild eines fpäteren Kierkes, das jedweder illußoniftifcher Scböpfer-
abficht entbehrt. Die im Schmerz förmlich zufammengefunkene Mutter mit den ver-
loren blickenden, leidvollen 3ügen im Antlitj, weift auf die typifcße, anderen 3ielea
zuftrebende Renaiffance tym. Die anderen Geftalten, die in zwei Gruppen angeordnet
wurden, die vier Frauen rechts und Johann der Evangelift und Jofeph links, in ihrer
parallelen Stellung zueinander — in der Neigung der Köpfe und teilweife der Haltung
der Hände —, die kantig neigende Kopfhaltung des heiligen Johannes, die viel zu
kleine, in fchwachem Klinkel vorgebeugte Geftalt des heiligen Jofeph, find Kinder der
ftilreinften Frühgotik. Das reiche Fließen der mittelfchweren Gewänder, die verblüffend
richtig gefehenen Übergänge von Schüffel- und Längsfalten, das natürliche Gleiten der
Überwürfe über die Häupter der Frauen find die kraßen realiftifchen Gegenfätje, die
den Stil der Frühgotik bis in die fpätere 3^it hinein charakterißeren.
Anders liegt es bei dem zweiten Klerk (Abb. 2). Hier find die gruppierten Geftalten
in ihrer Stellung zueinander weniger zufammenhängend fowoßl im Gefühlsausdruck als

1 Erft in der Barockzeit kamen an deffen Stelle die „Krippen“ in Verwendung, die aus einer
Landfcßaft, einem Stall, einigen Eieren und den entfprecßenden, aufftellbaren Einzelfigürcben beute
noch zufammengeftellt werden.
2 Diefer ümftand bewog micb, die Entfteßungszeit des Güerkes, die bisher um 1500 angefeßen
wurde, auf die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts feftzufetjen.
3 Der im II. Ceil erwähnte Bericht des Mufeumskuratoriums erwähnt fogar die Künftler, die den
Verdienft einer folcben „Inftandfeljung“ beanfprucßen und die Jahre, in welchen diefelbe vor-
genommen wurde!

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