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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

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Nr. 203 - 228 (1. September 1903 - 30. September 1903)
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ten von 30 000 Z-i'ancs aus der Zivilliste zn tilgen ge-
wesen wäre. Jnfolge des letzten Offizierskonfliktes soll
nun auch dieses Geschäft rückgängig gemacht werden.

Belgrad, 14. Sept. Das Kriegsgericht gegen
die verhafteten Offiziere wird bereits am 15. d.
M. zusammentreten.

Aus Stadt und Land.

Heidelberg. 15. September.

(?) Vom Schloß. Auf Anordnung des Ministeriums ließ
der Großh. Oberbaurat Schäfer Gypsmodelle anfertigen,
toelche die zur Wiederherstellung in Frage stehendcn Baulich-
keiten, so wie sie zur Erneuerung projektiert sind, darstellen;
vor allen Dingen vom Otto Heinrichsbau, dessen Wiederher-
stellung nach verschiedenen Projekten in Modellen beranschau-
licht wird, dann vom gläsernen Saalbau und Glockenturm.
Auch vom Cnglischen Bau, dicken Turm und Bandhaus sind
Modelle vom früheren Zustand angefertigt worden. Die Mo-
delle sind im Maßstab 1:20 sehr sorgfältig auszeführt.
Jm Laufe der nächsten Tage werden sie hier
eintreffen und im Schlosse Aufstellung finden. Während
der kommenden Session des Landtags sollen, wie man hört, die
'Mitglieder unserer Ständekammern zur Besichtigung- der Mo-
delle und des neuhergerichteten Friedrichsbaues eingeladen
werden.

/X Einquartierung. Gestern um die Mittagszeit wurde es
in unserer Hauptstraße sehr lebendig; hunderte von Personen
— Männer, Frauen, Jünglinge, Mädchen, Kinder — fanden
sich dort ein, und harrten auf die Ankunft der Soldaten, die
in Stärke von fast 3000 Mann in unserer Stadt eintreffen
und hicr Quartier nehmen sollten. Es war halb 1 Uhr, als
die ersten Truppen sich zeigten. Zunächst kam Artillerie, die in
Handschuhsheim Quartier nahm, und teils über die alte, teils
über die neue Brücke dorthin zog. Dann folgte eine Eskadron
Dragoner; auch Meldereiter säh man und eine Anzahl Offi-
ziersburschen auf den Pferden ihrer Herren. Das glatte,
feuchte Asphaltpflaster und die Schienen der Straßenbahn be-
reiteten übrigens den Pferden manche Schwierigkeiten. Außer-
dem waren die Tiere an die elektrische Bahn nicht gewöhnt;
sie schcuten vor derselben und das gab manchmal ganz bedenk-
liche Situationen. Eine größere Anzahl von Pferden strau-
chelte; eins überwarf sich sogar, sodaß sein Reiter im Bogen
zur Erde flog. Zum Glück nahmen weder Mann noch Roß
Schaden. Jn beträchtlichem Abstand von der Kavallerie kam
dann die Jnfanterie, das Karlsruher Leibgrenadierregiment,
eine Kompanie Pioniere und unser Bataillon. Die Soldaten
fcheinen ziemlich angestrengt worden zu sein; wohl marschier-
ten sie flott einher, aber es ging doch maschinenmäßig und die
Wlicke hatten einen gewissen, von Müdigkeit zeugenden, starren
Ausdruck. Nur hin und wieder fand sich in den Reihen ein
Schwerenöter, der nicht umhin konnte, trotz der Müdigkeit
die Mädchen am Wege anzublinzeln und ihnen Scherzworte
zuzurufcn. Die Karlsruhe Grenadierkapelle unter Böttge
hatte beim Karlstor Aufstellung genommen; auch die Kapelle
unseres Bataillons war anwesend. Beide ließen lustige Wei-
fen erschallen, wobei Böttge besonders Heidelberger Lokallieder
bevorzugte, und so marschierten die Truppen mit klingendem
Spiel durch die dichten Neihen der Zuschauer in die Stadt.
Die schlechte, feuchte Witterung hatte den llniformen ziemlich
stark zugesetzt, namentlich unser Bataillon scheint erfahren zu
haben, was es heitzt, bei regnerischer Witterung zu manöverie-
ren; es hatte augenscheinlich öfters über Sturzacker gehen und
auch niederknien müssen. Die Stiefel und die Kniee wiesen
starke Spuren davon auf. Einige Stunden nach dem Einzug
aber waren die Leute wieder sauber und sie ließen es sich dann,
im Gefühl, eine Tagesleistung hinter sich zu haben, wohl sein.
Die Strahen der Stadt waren am Nachmittag von Soldatcn be-
lebt, und die Wirtschaften hatten reichlichen Zuspruch. Seine
Grohherzogliche Hoheit Prinz Max war im Hotel Viktoria ab-
gestiegen und bersammelte dort eine Anzahl Offiziere zum
Mahl um sich. Die Mehrzahl der Offiziere, insbesondere die-
jenigen vom Karlsrüher Leibgrenadierregiment, vereinigten
sich mit einer Anzahl von Gästen, im ganzen etwa 80, in dem
von der Stadt festlich erleuchteten großen Saale der Stadt-
halle zum Essen, wobei die Regimentskapelle konzertierte. Die
Pioniere waren vom hiesigen Pionierverein in den schön mit
Pionierwerkzeug dekorierten Ztoingersaal geladen. Dort ent-
faltete sich ein fröhliches, kameradschaftliches Leben. Herr
Hauptmann Siebmann dankte im Verlauf des Beisammenseins
bem Pionierverein für die Einladung, und der erste Vorstand
des Vereins, Zimmermeister Edel, brachte ein Hoch auf die
-Offiziere und Mannschaften aus. Gegen 10 Uhr verließen die
letzteren den Zwinger, um sich in ihre Quartiere zu begeben.
Um diese Zeit suchten auch die ubrigen Mannschaften ihre La-
gerstäten auf, und am späteren Abend begegnete man in der
Stadt nur noch hin und wieder Unteroffizieren und Offizieren.
Heute früh gegen 8 Uhr sind die Truppen wieder ausgerückt.
Für den heutigen Tag liegt der nun beginnenden Divisions-
übung folgender Plan zu Grunde: Eine Armee rückt von
Heilbronn vor, um einen Borstoß gegen den Rhein zu machen.
Zur Abwehr hat eine in Mainz stehende Armee sich in Be-
wegung gesetzt. Die 65. Brigade hat erfahren, daß Sins-
heim vom Feinde noch nicht besetzt ist; sie hat den Auftrag er-
halten, dorthin zu marschieren, und den Feind unter allen
Umständen aufzuhalten. Demzufolge setzte sich das Karlsruher
Leibgrenadierregiment von hier aus über Gaiberg in Be-
wegung. Auch das 110. Regiment, von dem bekanntlich ein
Bataillon hier, eins in Rohrbach, eins in Kirchheim im Quar-
tier lag, nahm seinen Weg dorthin. Der Hauptzusammenstoß
wird wahrscheinlich zwischen Sinsheim und Meckesheim, viel-
leicht auch bei Eschelbach erfolgen. Das Wetter ist auch heute

Ivurdm heute Vormittag starke, 17 Sekuudeu dauernde
Vrdstöße verspürt.

— Eine Ballvnfahrt über den Atlantischcn Ozean pla-
nen drei bekannte sranzösische Gelehrte, der Geograph Pro-
fessor Reclus, der Dozent Berget von der Sorbonne und
der Luftschiffer Capassa. Jhrer Berechnung nach würden
'sie einen Ballon von 13 000 Kubikmeter Flächeninhalt
siraucheu. Der Ballon soll in einer Gondel sechs Personen
tragen können, autzerdem einen Fallschirm und iu Anbe-
tracht der Möglichkeit, daß eine Landung auf offener See
nötig wird, ein Rettungsboot mit fich führen. Zur Be-
dienung des Bootes werden zwei Matrosen mitgenom-
meu. Die drei Forscher habeu die Windverhältnisse im
Atlantischen Ozeau sorgfältig studiert und sind danach zu
der UeberzeuMyg gekommen, daß die Abfahrt am besten
ini Monat Mai vou den kanadischen Jnselu erfolgen
würde. Falls ihre Schätzungen zutreffen, würden sie auf
der Jnsel Trinidad, vor der venezolanischen Kiiste, unge-
fähr 5000 Kilometer vom Abfahrtsort entfernt, landen.
Sie glauben, daß bei dem starken Wind, der im Frühjahr
im Atlantischen Ozeau herrscht, die ganze Reise nur 4 bis
H Tage in Anspruch nehmen würde.

trüb und kühl. Zum Marschieren ist es gut geeignet, aber das
Biwak im Freien, das heute dem 109. Regiment bevorsteht,
dürfte nicht gerade zu den Ännehmlichkeiten des Soldatenlebens
zählen. .

-p -Ophthalmolvgen. Zur gleichen Zeit, als im großen
Saale der Stadthalle ein Festmähl der hier einquartierten
Offiziere stattfand, bersammelten sich die zur Zeit hier tagenden
Ophthalmologen im kleinen Saale zu einem gemeinsamen
Essen. Es nähmen etwa 120 Herren an dem Mahle teil. Die
Tafelmnsik wurde von dem hiesigen Orchesterverein ausge-
führt.

-p Eine Einbrecherbandc machte in der Nacht von Samstag
auf Sonntag der M e d iz i n a l - D r o g e r i e von Dr.
Schulze u. Ieittner, Hauptstraße 86, einen Besuch. Sie
stiegen von hinten über die Landfried'schen Neubauten, weiter
über eine niedrige Maner, an deren Oelfaröeanstrich sie Spuren
zurückließ, in den Hof des Grundstückes ein und öffnete mit
einem Dietrich die mit einem einfachen Schlosse versehene als
V-erschluß dienende Glastüre zum Kontor. Dort erbrachen die
Diebe zwei Schreibtische und die Ladenkasse. zerstreuten den Jn-
halt im Laden umher u. hießen einen Barbetrag von ungefähr
800 Mark sowie nebenhcr noch einige Flaschen Kognac und Rot-
wein mitgehen. Als Beleuchtungsmaterial haben ste, bevor sie
die Gasflammen fanden, Stearinkerzen, von denen Spuren auf
dem Boden zurückblieben, benutzt. Ein empfindlicher Gasge-
ruch strömte Herrn Dr. Schulze, welcher das Geschehene morgens
9 Uhr cntdeckte, entgegen, da die Diebe die Gashahnen offen ge-
lassen hatten, hätte das Anzünden einer Flamme eine Explosion
hervorrufen können. — Bei Herrn Lebeau, Sofienstraße 23,
wo gleichfalls eingebrochen wurde, fanden die Diebe nur 25
Mark in Briefmarken. — Jn der Klo tz'schen Fäbrik miszlang
ein Einbruchversuch. — Bewohner eines Hauses in der Amsel-
gasse in Handschuhsheim wurden dadurch geschädigt, daß Diebe
durch ein offenes Fenster eindrangen und daselbst eine Uhr und
35 Mark entwendeten.

-s- Zu dem Mordversuch in Schriesheim wird uns mitge-
teilt, datz der Mörder, welcher eiyen Selbstmordversuch machte,
nicht tot ist, sondern daß er itst akademischen Krankenhaus
liegt. Dem Opfer, Herrn Kuchenbeißer, sowohl, als auch dem
Jtaliener geht es den Umständen nach leidlich gut. Was das
Motiv zu der gräßlichen Tat des Jtalieners anbetrifft, so hatte
dieser es vermutlich auf die Kasse abgesehen. Da Zahltag war,
so hatte Herr Kuchenbeißer eine beträchtliche Summe Geldes
im Bureau. Er war gerade dabei, das Geld für die Aus-
zahlung zu ordnen.

O Merienstrafkammer-Sitzun-i vom 14. ds. Borsitzender:
Landgerichtsrat Gautier. Vertreter der Gr. Staatsbehörde:
Staatsanwalt Dr. Sebold. 1. Die 22 Jahre alte, in Mann-
heim wohnhafte Dirne'Frieda Sum von Oberwolfach machte im
Mai d. I. auf dem SHlosse hier die Bekanntschaft eines aus
der Reise von Saarburg nach Wiesbaden befindlichen Roszarztes,
dem sie im bertraulichen' Zusarymensein auf einem Spazier-
gange in der Nähe- der Molkenkür ein Portemo^nnaie mit 700
Mark Jnhält wegnähm. Wegen nnter mildernden Umständen
verübten Diebstahls im wiederholten Rückfall wird die Ange-
klagte zu HMonatey Gefängnis verurteilt. — 2. Schieferdecker
W. H. Stäüm von Heidelberg nahm einem Zimmergenossen aus
einem gemeinschäftlichen Kleiderschranke Kleider, um sie selbst
zu Len-utzen und nach dem Gebrauch angeblich sie zurückzngeben.
Das Schöffengericht erblickte 'hierin Diebftahl und erkannte auf
5 Tage Gefängnis. Jn der heutigen Verhandlung lonnte das
Gericht stch von der diebischen Absicht des Angeklagten nicht
überzeugen und sprach ihn infolgedessen frei. — 3. Wegen Ber-
strickungsbruchs war auf die Anzeige des Gerichtsvollziehers
Bräuninger ber Schreinermeister Karl Jordan hier angeklagt,
vom Schöffengericht aber freigesprochen worden. Die Staats-
anwaltschaft legte gegen dieses Urteil Berufung ein und heute
wird der Angeklagte öes genanntLn Wergehens in .2 Fällen
schuldig, seine Schulü aber, besonders weil niemand geschädigt
wovden war, so leicht befunden, daß auf die geringste zulässige
Strafe, 2 ,Tage Gefängnis, erkännt werden konnte. Das Gericht
empfähl dem Anqeklagten, die Gnade des Landesherrn anzu-
rufcn. ^ (Schluß folzt.)

— Polizeibericht. Verhaftet wurden ein Schiffer-
decker und ein Hausbursche wegen Landstreicherei und ein Mu-
siker w-egen Bruchs der Ausweisung. Zur Anzeigc kamen drei
Personen wegen Ruhestörung und ein Frauenzimmer wegen
Umherziehens.

Mnnnhsim, 14. Sept. (D i e st ä d t. Mittelschulc n.)
Jn der Frage des Besuchs der Mannheimer Realmittelschulen
hat sich der Großh. Oberschulrat, dem „M. Gen.-Anz." zufolge,
dahin ausgesprochen, daß im Einvernehmen mit dem Stadtrat
in Mannheim von der Ausweisung nicht badischer Schüler ab-
zusehen ist. Auch die Aufnahme nichtbadischer Schüler ist ge-
stattet.

Gppingen, 14. Sept. (Der Großherzog) kommt, wie
der '„Volksbote" hört, zu den z. Zt. stattfindenden H e r b st -
manövern nach Eppingen und zwar am 21. Sept.,
11.26 Uhr vormittags. Die Abfahrt geschieht 5 Uhr nach-
mittags mit Sonderzug. Die Ankunft am 22. September ge-
schieht 7.80 Uhr vormittags mit Sonderzug von Karlsruhe,
die Abfahrt 3.44 Uhr nackmittags.

TheaLer- nnd Kunstnachrichten.

— Hermann Zumpe hat autzer ciner fast vollendeten Oper
noch wertvolle Aufzeichnungen über seinen Umgang mit Richard
Wagner hinterlassen, die er in einem eigenen Werk'e veröffent-
lichen wollte. Die Oper, die bis auf die Jnstrumentation voll-
endet ist, trägt den Titel „Sawitri". Jhr Text ist vom Gra-
fen Sporck nach dem gleichnamigen Märchen Kalidasas ver-
faßt.

Handel und Verkehr.

Mannbeim- 14. Septsmber. Oberrbeinische Vank —.— B.,
95.40 G. Rbein. Creditbcmk —B, 199.75 K. Nbeiu. Hyp.-
Bank190.— G., —B., Branerei Kieinlein, Heiüelberg, G.,
180.50 B. Schroedl'sche Brauerei Heidelberq - B., 190.— G,

Portland-Zementwerk Heidelberq —G., 110.— B.

N e ck a r.

Hetdelberg 15., 1.16, gest. 0.06m
Keilbronn, 14.. 0.55. gelt. 0.20 m
Mavnheim, 14.3.45 qef., 0.04 m

R b e i n.

Lauterbnrg 14,3 85, qef. 0.05m
Maxau 14 . 4.04, qef. 0.04n

Rannheim. 14., 3.44 qef. 0.03 w

Vom sozialdemokratischen Parteitag.

D r esden , 14. Sept.

Jm Vordergrunde des- Jnteresses, so schreibt die „Köln.
Ztg.", stehen Auer und V o l l m a r. Von Bebel hat
man sich bald überzeugt, daß er sich sehr guter Gesundheit zu
erfreuen scheint, ebenso aber auch, datz ein erbittert fanatischer
Zug nur selten von seinen Mienen verschwindet. Auer ist
viel kränker, als man bisher wußte. Sein Aussehen läßt kei-
nen Zweifel am Ernst seiner Erkrankung. Gleichwohl ist er
da, aber nur mühsam folgt er den Reden mit einem großen
Hörrohr. v. V o l l m a r ist mit seiner Gattin gekommen.
Er wechselt mit Bebel kein Wort. Mit vielen eine frostige, mit
anderen eine beleidigend artige Begrüßung. An sechs langen
Tafeln stehen die Sitze für die Mitglieder des Arbeiterparla-
rnents bereit. Auf der äußersten Rechten und in der ersten
Reihe hat sich Vollmar niedergelassen und bald scharen sich
etwa zwei Dutzend Revisionisten in seine Nachbarschaft. Nur
Bernstein sitzt abseits. Von den anderen ist nicht viel zu
sagen, was man nicht schon weiß. Daß sie alle da sind, ver-
steht sich bei einem solchen Parteitag von selbst. So ist auch

dessen Mitgliederzahl ziemlich feststehend. Jn der Nähe von
250, eine Zähl, die heuer durch den Zuwachs an Abgeordneten
etwas erhöht wird. Viel Platz für das Publikum ist nicht im
Saale. Der Andrang freilich ist ungeheuer, doch können nur
ein paar hundert Zuhörer zugelassen werden.

Nach 7 Uhr eröffnete der Abgeordnete Aug. Kaden -
Dresden, der sich in scinem Nückblick als ein Veteran der Partei
kennzeichnet, die Sitzung: „Sie sind in einem roten Land", so
preist er das Reichstagswahlergebnis, und die Versammlung
jauchzt ihm zu. Die 22 Mandate in Sachsen von 23 bezeichnet
er als die Morgengabe der sächsischen Partei für dcn Parteitag.
Scin Jubel aber klingt doch aus in einem etwas zittrigen Appell,
den Zwiespalt in der Partei zu begralen. Bebel antwortet
namens der Parteileitung. Eine rauschende Kundgebung der
Versammlung empfängt ihn schon, als er die Stufen zur
Rednerbühne hinaufsteigt. Er hielt eine merkwürdige Rede.
Abwechselnd maßlos verh-etzend, packend, seine Leute fortrei-
ßend, dann langweilig ünd öde, ein unruhiges Gemisch mach
jeder Richtung, nach Jnhalt und Form, entweder eine Stegreif-
leistung oder eine ganz bösartige Tendcnzmache. Er sagt den
Sachsen, was sie für täpfere Kerle seien und es gibt mehr als
einen im Saalc, dcr aus dieser ewigcn Jch-Rede nur immer
den Sang heraushöric: „Seht, Genossen, das war ich und das
bin ich!" Das Volksgericht hat mach ihm durch die sächsischen
Wahlen ausgesprochen: die uns da regieren, das sind nicht
diejenigen, von denen wir regsert sein wollen. Man hat aus-
gesprochen das Recht zur Depossedierung derjenigen, die heute
in Sachsen die Herrschaft in dex Hsnd haben. Auf die Häup-
ter derjenigen ist das Volksgericht herabgesandt, die uns seit
Jahrzehnten gehudelt und gebüttelt haben, wie niemals eine
Partei gehudelt und gebüttelt worden ist. An der offiziellsten
Stelle beim Minister des Jnnern ist das Wort gefallen: Ja-
wohl, die Gesetze gelten, aber gewisse Gesetze, die müssen gegen
die Sozialdemokraten anders gehandhabt werden, wie gegen
andere. (Pfuirufe.) Alle Grundsütze des modernen Rechts
sind dadurch mit Füßcn getretcn. Wann? habe ich mich
immer gefragt: Wann wird dem Volk die Geduld reißen?
Mir waren die Sachsen zu gemütlich, mehr Leidenschaft
mußte herein. Jetzt habt ihrs brav gemacht. Die Her-
ren werden den Denkzettel nicht vergessen. Die
drei Millionen über 25 Jahre alten Männer wußten, was sie
tat-en. Hätten wir's verschwiegen, die Gegner haben's gesagt,
was für eine gott- und teufelsverlasscne Gesellschaft wir sind.
Und trotz aller Verleumdungen: drei Millionen! Aller Kot hat
unser Kleid reinlich gelassen. Bebel prcist Sa ch s e n als altes
Kulturland. Jntrner war das Volk voran, so bei der Refor-
mation, so bei Thomas Münzer .usw. Sachsen stand gewiß weit
mehr an der Spitze als jenes offizielle Westkalmücken-
tum, das jetzt die Herrschaft in Deutschland bekommcn hat.
Bebel erzählt °von den Revolutionon, von seinem Hochverrats-
prozesse, von seiner Festungstid. Teilweise mit Humor, noch
mehr mit langer Weile hörte man ihn an, und er konnte zu
den gefchäftlichen Mitteilungen übergehen, ohne datz sich eine
Hand rührte. Man entschädigte ihn aber am Schlusse. ^

Nun regelte der Parteitag seine F a m i l i e n si e r -
hältnisse. Singer und Kaden wurden Präsiötnten.
Singer half stch über die Eröffnungsrede hinweg mit der Er-
innerung ans 25. Jubiläum des „brutalen Ausnahmeschand-
gesetzes" und brachte ein sonst nicht hccgebrachtes Hoch auf
„die deutsche Sozialdemokratie" aus. Dtan wählte Schrift -
führcr und allerlci Kommitierte, in die man auch aus der
Gruppe der Frauen einige zulietz, und dann kam für heute
das Hauptstück: die Festsetzung der Tagesordnung.
Die Revistonistenäierhielten sich einen Augenblick etwas miß-
trauisch gegenübeweinem Singerschen Vorschlag, wie man des
Nattenkönigs von Fragen formell Herr werden soll, ohne daß
jeder Nedncr über alle Dinge und noch einige andere zuglcich
rcden soll. Der Vorschlag, der die L i t e r a t e n f r a g e ,
den B e b e l - „V o r w ä r t s" S t r e i t und eine soeben
neuerstehende Polenf'ra g e — die Polen haben ein offe-
nes Sendschreiben an den Parteitag gesandt — morgen an den
Vorstandsbericht anhängt, wurde aber genehmigt. Die Revi -
sionistenfrage kommt erst hinterher. Wie Bebel heute
ankündigte, wird sie „gr ü n d l i ch , sehr gründlich".
Die Gegensätz'e sind schärfer als je. Vollmars
eisiges Schweigen — er bewahrte es auch gegenüber ciner hen-
tigen direkten Anfrage Bebels — kündet Unheil. Kurz vor
Schluß der Sitzung fiel übrigens gerade noch der Essener
Antrag, das Reichsberggesetz und den allgemeinen Acht-
ftundentag auf die Tagesordnung zu setzen, mangels nötiger
Unterstützung glatt und sanglos zu Boden.

Vor Eintritt in die heutige Tagesordnung begrüßt Sin -
ger die Vertreter aus dem Auslande und feiert Üie Solidari-
tät der ausländischen Sozialdemokratie, die sich so glänzend
bei den Wahlen bekundet habe. Es folgten dann verschiedene
Dankesansprachen ausländischer Sozialdemokraten.

Jn die Erstattung des Rechenschaftsberichts und Kassen-
berichts der Partcileitung teilen sich die Abgeordnctcn Pfann-
kuch und Gerisch.

Jn einer längeren allgemeinen Erörterung beftreitet Ge-
wehr-Clberfeld, daß die Leitung alles übersehen könne und ver-
langt daher eine NeorganisaUo.n. Die Wünsche aus Rhein-
land und Westfalcn möge män nich't auf die leichte Achsel neh-
men. Lehmann-Mannheim führt in heftjgen Worten Klage
über Vernachlässigung des Saarbrücker Kohlenreviers, insbe-
sondere in Ottweiler und Sk. Wedel, wo es nicht vorwärts,
sondern rückwärts gehe. Walther-Koburg tut mit freiwilligem
und unfreiwilligem Humor dasielbe über die Verhältnisse in
Koüurg. Pfannkuch verspricht im Schlußwort, daß auch für
Saararabien etwas geschehcn solle, aber die Personenfrage sei
nur sehr vorsichtig zu entscheiden. Walther habe ganz recht,
hinter jedem Dorf liege noch eins. Ueberall zu gleicher Zeit
könnten die Führer nicht sein. Der Delegiertentag spricht
sodann die Entlastung des Parteivorstandes aus.

Am Nachmittag setzte es großen Zank in der Schriftsteller-
frage. Sie wurde aber nicht erledigt, sondern geht morgen
weiter. Es handelt sich dabei darum, ob Sozialdemokraten
für bürgerliche Blätter schreiben dürfen oder nicht.

Neuefte SrachrichLen.

München, 14. Scpt. Dje ,,M. N. N." melden nus Zell
am Ziller, daß der Ziller infoM anhaltender Regengüsse aus
den Ufern getreten ist und das Zillertal überschwemmt hat.
Zell steht teilweise unter Wasier. Der Bahnverkehr ist einge-
stellt, ebenso ist der Bahnverkehr im Pustertale völlig unter-
brochen.

U. Düren, 14. Sept.j Heute Nachmittag 1 Uhr wurden auf
dem Mannöverterrain tn der Nähe von Weißweiler 6 Sol -
daten des in Trier iy Garnison liegenden JnfanteriL-Regi-
ments von Horn (Nr. 29) vom Blitze getroffen. Ein
Soldat wurde getötet, 5 wurden verletzt. 3 Soldaten, die der
Schreck betäubt hatte, vermochten sich, wie die „Dürener Ztg."
meldet, bald nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus wiedcr
zu erholen.

L Berlin, Ist.Wept. Ueber die deutsche Südpolar-
Cxpedition liegt folgende weitere telegraphische Meldung
vor: Glücklich Äcsension angekommen, alle wohl, Abreise
Dienstag. Drygalski.

X Mohacs, 14. Sept. Kaiser WilheI m unternahm
heute am frühen Morgen einen Pürschgang im Forst von
Karapaucsa und arbeitete nach der Rückkehr. Heute Abend
sowie morgen früh wird der Kaiser abermals im Forst
 
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