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Heidelberger Zeitung (45) — 1903 (Juli bis Dezember)

DOI Kapitel:
Nr. 281 - 305 (1. Dezember 1903 - 31. Dezember 1903)
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4ö. IiMMW,

301

Donncrstüg, 24. Dezeniber 1903



Erscheint täglich, SonntagS anSgenommen. Preis mit Familienblättern monatlich 5V Pfg. in's Haus gebracht, bei der Expeditiov nnd den Zweixstationen abgeholt 40 Pfg. Durch die Post

bezogen vierteljährlich 1,35 Mk. ausfchließlich Zustellgebühr.

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an bestimmten Tagm wkd keine Verantwortlichkeit übernommen. — Anschlag dcr Jnserate auf den Pla kattafelu der Heidslberger Zeitung und deu i idtischeu Anschlagstellen. Fernsprecher 82.

Die Deutschen in Antwerpen.

Unter der Ueberschrift „Die Deutschen in Antwerpen"
verösfentlicht die Londoner Zeitschrift „Comniercial Jn°
telligence" einen interessanten, von dem Pariser Korre-
spondenten des Blattes geschriebenen Anfsatz über den un-
geheuren Aufschwung, den die deutsche Schiffahrt in dem
genannten Hafen genommen hat. Der Verfasser sagt, daß
jeder Jremde, der den Hafen besuche, sofort bemerken
müsse, wie sehr die deutsche Flagge Äort im Vordergrund
stehe. Es sei ganz außerordentlich, wie viel man in den
Straßm Deutsch sprechen höre. Früher sei das nicht so
gewesen, sondern damals habe die französische Flagge
im Vordergrunde gestanden, und Französisch sei damals
die Kaufmannsjprache gewesen. Nach und nach verschwand
aber der französische Einfluß, bis die 'Flagge nach und
nach ganz aus dem Hafen verschwunden sei. Der Deutsche
sei dort jetzt allmächtig, und es sei klar, daß er gekommen
sei, um zu bleiben. Dann erzählt der Verfasser die Ge-
schichte dieser friedlichen Eroberung. Jm Jahre 1880
hätten einige französische Dampfergesellschaften gefürchtet,
daß die deutschen Schiffe eine energische Konkurrenz in den
Häfen von Cherbourg, Havre und Boulogne beginnen
würden, und da hätten sie sich mit den deutschen Gesell-
schaftm auf einen Vertvag eingelassen, der bestimmte, datz
die französischen Schiffe dm deutschen den Handel von
Antwerpen allein überlassen sollten, während sich die
deutschcn verp'lichteten, nicht in den franzönschm Häsen
am Äermelmeer anzulaufen. Dann hätten die deutschen
Geseüschaften plötzlich den Vertrag gekündigt und es den
Franzosen offen gelassen, ihre Schiffe wieder nach Ant-
werpen zu schicken, wo sich die Deutschen inzwischen natür-
lich vollkommen stcher fühlten. Das Hätten die franzö-
schen Gesellschastm aber dann garnicht erst versucht. Da-
her komme es, daß die deutsche Flagge in Antwerpen
hmtzutage allmächtig sei und daß die deutschen Schiffe
außerdem noch in Cherbourg und Boulogne anlegten.
Weiter führt der Artikel einen Bericht des französischen
Konsuls in Antwerpen an, in dem die alte Klage wieder-
kehrt, die man heutzutage in fast allen britischm Konsu-
larberichten finden kann, nämlich, daß die deutschen
Kommis die Stadt überfluteten, für billiges Geld arbei-
teten und sich die Geschäftsgeheimnisse aneigneten, um
dieselben dann gegen ihre früheren Brotherren auszu-
nutzen. Manchmal heirateten die jungen Leute auch in
die Familien ihrer Brotherren ein und suchten so die Ge-
fchäfte.in derstsche Hände zu bringen.

Deutsches Reich.

Dayern.

— D)er Wahlausschuß der baYerischsn Abge -
o r d n e te nk a m m e r hat am Freitag der vergange-
nen Woche seine Verhandlungm über den Landtags-
wahlrechtsreformentwurf der Regierung
zum Abschluß gebracht. Die Vorlage wurde mit einigen
unwesentlichen Aenderungen, die sich namentlich auf die
Herabsetzung des passiven Wahlalters vom 30. aus das
23. Lebmsjahr und auf die große Sicherung des Wahl-
geheimnisses beziehen, vom Zentrum und von dm Sozial-
demokraten gegen die Stimmen der Liberalen und der
BauernbünLler angmommen. Die hauptfächlichsten
Streitpunkte sind, nach einer Ausführung in der „Frankf.
Ztg-", jetzt die relative Mehrheit (mindestens ein Dritte!
aller abgegebenen Stimmen) für die Entscheidung schon im
ersten Wahlgange und die Wahlkreiseinteilung. Jn frü-
heren Stadien der Beratungcn hatten außerdem die Li-
beralen gesetzliche Strafbestimmungm gegen Weisiliche
und Beamte verlangt, die ihr Amt zu unzulässigen Wahl-
Leeinflussungen mißbrauchten. Sie haben schließlich da-
rauf verzichtet urid sich auf die beiden angeführtm Aus-
stellungm beschränkt. Die Reform soll die Heraufsetzung
des aksivm Wahlfähigkeitsalters vom 21. auf das .26.
Jahr, femer die einjährige Karrenzzeit und die Bedin-
gung des Nachweises einer Staatssteuerzahlung von einem
Jahre, statt der bisher erfarderlichen halbjährigm brin-
gen. Dem Allen haben die Sozialdemokraten ganz gegen
ihr sonssiges Berhalten zugessimmt. Sie taten es in der
Hoffnung, daß die Reform doch scheitern werde und daß
man dann die Liberalen dafür Veransivortlich machen
könnte. Es wäre nicht übel, wmn die Liberalen ihnen
einm Strich durch die Rechnung machm würden.

Sachsen.

— Die Ausständigen in Crimmitschau verlan-
gen bekanntlich hie allgemeirre Einsührung dcs Zehn-
stundmtages. Was das bedmtm würde, das setzt im
„Berl. Tagebl." ein mit Len Verhältnissen der sächsischen
Texsilindustrie vertrauter Jndnstrieller anseinander. Er
schreibt:

Jm ersten Augenblick sieht diese Forberung ganz unschein-
bar aus; näher betrachtet, gibt sie folgendes Resulrat: Eine
Fabrik dort, die 500 Arbeiter beschäfsigt, hätte in der Wvche
einen Ausfall von 3000 Lohnstunden; nach dem dortigen
Durchschnittsverdienst, die Stunde etwa zu 32 Pfg. gerechnet,
ergibt die Mehrbelastung des Fabrikanten für die Woche 960
Mk., das ist im Jahre 49 920 Mk. Mag diese Rechnnng in
Betreff des derzeitigen Lohnsatzes nicht ganz stimmen, so gibt
sie doch eine Veranschaulichung der in diesem Kampf erhobenen
Fordernngen. Für eln Etablissement, das seine Preise er-
höhen kann und floriert, wäre dieser Ausfall eine Bagatelle;
für die Textilbranche aber, die den so ost schwankendeNi
Preisnotierungen für Rohmaterial, wie Baumwolle usw. unter-
worfen ist, bedeutet diese Mehrbelastung einen sehr wichtigen
Faktor.

Auch die „Frankf. Ztg.", die sich sonst bei einem
Streik mit ihrm Sympathien im Lager der Ausständigen
zu befindm Pflegt, läßt sich.aus Crimmitschau schreibm:
die Crimmitschauer Textiilindustrie pvoduziere ohnehlin
sehr teuer; den ausländischm Markt habe sie dadurch
schon so gut wie ganz verlorm; eine.Erhöhung der Pro-
duktionskosten müßte sie anch noch um den deutschm
Markt bringm, sür den sie in 63 Tuchfabriken und 26
Vigognespinnereim Herrenstoffe im Gesamtwert von 40
Millionen Mark Herstellt.

Äus StaSt uud Land.

Vo. Weihnachtsfeier in der Luisenheilanstalt. Ein freubiger
Wend war der gestrige für die kranken Kleinen in der Luisen-
heilanstalt. Das Christkind hat auch bei ihnen Einkehr ge-
halten und ihncn Geschenke in grotzer Zahl zuteil werden
lassen. Ilm 5 Uhr fanden sich die Eltern der Kleinen und
sonstige Freunde und Gönner der Anstalt ein, um vereint mit
den kranken Kindern die Bescherung zu feiern. Unter einem
chrennenden Weihnachtsbaum fand zuerst die Bescherung der
Krankenschwestern, die ihr ganzes Sein in den Dienst der
Barmhcrzigkeit gestellt haben und denen das Wohl ihrer Schutz-
besohlenen stets am HerzSn liegt, statt. Vikar Enler richtete
hicrbei zu Herzen gehcnde und ergreifende Worte der An-
erkennung und der Aufmunterung an dieselben. Hieranf ging
es von Saal zu Saal. Ueberall lcuchteten den Eintvctcnden ein
stvahlendcr Christbaum und frendig erregte Kindergesichter ent-
gegen. Wer das Bett verlassen konnte, stand unter dem
Christbaum und sagto beglückt seine Berslein her, ja sogar solche
die das Bctt hüten mußten, trugen ihr G-edichtchen vor. Jn jedem
Saale sangen die Schwestevn unter HarnroniumLegleitung
.Weihnachtslieder. Auch in den Saal, in dem die von anstecken-
den Krankheiten Befallenen lagen, drang das Christkind nnd
teilte seine Gaben aus. Jn diesen Saal durftcn die U.-: ien
natürlich nicht eintreten. Das Leben spendende Wort über-
brachte diescn Kranken Kaplcm Schweizer. Kurz nach 6 Uhr
hatte die Feier ihr Ende erreicht.

st- Das Kaiser-Panorama stellt in dieser Woche einen
Cyklus der Feldzugserinnerungen von 1870—71 aus, welcher
uns die Verwüstungen des Krieges, die Gefechtsfelder Gorze
und Gravelotte vor der Schlacht, preutzische Verschanzungen,
Laufgräben und gesprengte Brücken, Kampffzenen von Wörth,
Weißenburg, Gravelotte und Sedan treffend vermrschaulicht.
Wir sehen die Feldwache Nr. 1 in Ferme, Noisville, woselbst
die Kompanie von Zeschau (Sachsen) in der Stärke
von 70 Mann in der ^ Nacht von sechs
Kompagnien Franzosen uberfallen würde und den Angriff
nicht nur siegreich znrückschlug, sondern auch noch viele Ge-
fangene machte, einen Ballonaufstieg bei Tonrs u. a. m. Zn
erwähnein sind noch die stimmungsvollen Bilder: Moltke am
Nachmittag bei Sedan, Bismarck und Napoleon III. bei Dou-
chery und die Kaiserproklamation zu Versailles am 18. Fa-
nuar 1871. Das Panorama ist auch am ersten Fciertag ge-
öfsnet.

a- Besitzwcchsel. Herr Ledcrhändler Karl Leim kauste das
den Herren Kanfmann und Schlotz gehörige Haus, Haupt-
stratze 147, um den Preis von 50 000 Mark.

Patcntbericht fiir Baden vom 22. Dezember 1903. Mit-
geteilt vom Jnternat. Patentbureau C. Kleyer, Karlsruhe i. B-,
Kriegsstr. 77. (Div Ziffern vor der Nummer bezeichnen die
Klasse). P a t e n t a n m e l d u n g e n: 44a. R. 18 666.
Haltevorrichtung für Damenuhrketten. Rudolf Rücklin und
Emil Binder, Pforzheim. 24. August 1903. Patentertei-
lnngen: 43b. 148 656. Schankcl mit einer nach einer
bestimmten Anzahl von Schankelbetvegungen in Wirkung tre-
tsnden Bremse, Bernhard Himmelspach, Bombach, Baden.
9. Juli 1902. Gcbrauchsmuster-Eintragungen:
3 b. 213 513. Kleiderverschlntz mit beweglichen Schlitzteilen.
Iac. Proskauer, Freiburg i. B., Güntersthalstratze 35. 21.

August 1903. 11 6. 213 724. Bücherschutzrahmen mit Eckver-
ziernngcn. Iakob Roeger, Seckonheim bei Mannheim. -16.
November 1903. 33 k, 213 490. Verschlietzbaver Behälter

für Bricfmarken, Hesipflaster nnd dgl., mit cincm im Deckel
angebrachten Spiegol. Lutz u. Weitz, G. m. b. H., Pforzheim.
19. Novembor 1903.

Mannheim, 21. Dez. (Znr A r b e i t s l o s e nb e s ch ä f-
tigung), die hier in der Herstellung vmr Wegeftrecken be-
steht, habcn sich im Lairf der letzten Tage im ganzen 417 Leute
gemcldct, fiir eine Sladt, dercn Bevölkernngsziffer kürzlicb
150 000 Lberschritten hat, znr geqenwärtigen Fahreszert cine
verhältnismätzig geringe Zahl. Die Arbciten werden in der
Hauptsache gegen Akkordlohn ansgeführt; soweit in etnigen
Fällen Tagelohn mr Frago konrmen mutz, wird ein solcher rn
Höhc von 2,70 Mk. gewährt.

Karlsrnhe, 22. Dez. (Das 26. Schuljahr der G r.
Ba u ge w e r k e s ch u l ei hat am .3. November 1903 mit dcr
Eröffnung des Wrnter--Semesters - 1908—04 begonnen. Die
Anmcldrmgen nener Schüler wavrw wre gewöhnlich, stark ein-
gelanfen. Bon dicsen wurden den Programmbestimmungen der
Anstalt gemäß diejcnigcn von der Airfnahmeprüflmg zurückge-
wiesen, welche das vorschriftsmätzige Alter imd die nötige Bor-
bildung nicht hattcn oder einen Ausweis übor ewe zweijährige

praktische Berusstätigkeit nrcht beibringen konnten. Nach statt-
gehabter Prüfung wurde die Ausnahme der Neueintretenden
mit der Zahl 139 äbgeschlossen und der Unterricht am 6. No-
venrber mrt 545 Schülern gegen 519 im Vorjahre begonnen.
Glerchzeitrg würde der im Sommer 1903 fertiggestellte Er-
weiterungsbau bezogen nnd die erste Klasse der ncuerrichteten
elektrotechnischen Abteilung nebst dem Läboratorium und dem
Maschdnensaal anschliehend an die absolvierte 3b-Klasse der
maschinenbautechnischen Nbteilnng eröffnet. An diesrlbe wird
sich im Sommer-Semester 1904 die zweite elektrotechnrsche
Klaffe unmittclbar anschlretzen.

Erziehungssragen.

Dtancher pcinliche Augenblick wäre Eltern und Kindern^
mancher stille oder ausgesprochcne Vorwurs den Eltcrn, manche
schwere Stunde und Gefahr dem Kiude crspart geblicüen, hälie
nmn rn einer der wichtigsten, das Gemür des Kindes und he-
ranivachsenden Menschen so tief bewegcnden Arage, der Frage
nach Entstehung und Fortpflanzung des Menschen, nach den ge-
schlechtlichenBeziehungen, nicht einem lügenhaften Vertuschnngs-
prinzip gehuldigt. Berjtändige und denkende Erzieher haben
das längst eingesehen, die grotze Masse aber lätzi derr Dingen
ihren Lauf, wie er immcr war, teils aus Mangel an Ucber-
legung, teils aus Jndolenz oder einem gewissen unaiigenehmen
Gefühl. Manchcr vcrbindet, weil er sclbst in mehr vder minder
hätzlicher Art üüer die natürlichen Dinge aufgeklärt worden ist,.
mit dem ersten Bekanntwerden hiermit etwas Unkeusches, so
datz er auch bei gutem Willen den Weg nrcht finden kann, aus
dem man das jugendliche Gemüt, ohne ihm seine Unbefangen-
heit und Keuschheit zu nehmen, und ohne sich selbst etwas zu
vergeben, zur Erkonntnis führt.

Einen geradezu mustergültigen Wegweiser bietet Eltern^
Erziehern und besonders solchen, dre in der angedeuteten Weise
denkcn, Dr. Sicüerts „Ein Buch sür Eltern".^) Dem an die
Müttcr gcrichtcten Mahnwort (vergl. Nr. 510 der „M. N. N.")
lätzt dcr Verfässer als zweiten Tcil des Buches ein Aiahnwort
„Den Vätern heranreifender Söhne" folgen, schildert uns in
fünf Briefen an einen Freund, der ihn um Rat gefragt hat.
das Denken imd Fühlen eines jimgen Menschen vom ersten
Kindesalter an bis zum Abschlutz der Entwicklung. Weit ent-
fernt, zu dozieren, systematisch aufzuzählen und theoretische
örterungen zu geben, sührt uns Siebert in packender, unr«r-
haltender Weise in das Leben des jungen Menschen ein, faßt
es so, wie es wirklich ist, an, und gibt eine Unmenge von An-
regungen. Ein frischer, idealer, gesunder und keuscher Geist
tritt üüerall hervor. Alls ganz besonderer Vorzug der Briefe
sei erwähnt, datz sie praktische Anleitung, wirklich aussührbare
Vorschläge geben.

Ueber das Kindesalter geht der Verfasser kurz hinweg;
hier untersteht der Knabe der Obhut der Mutter, die rein
gesundheitliche Frage ist da im Vordergrund. Mit der Schul-
zeit aber bereits ändeF sich das. Das Kind wird dcm allei-
nigen Einfluß des Elternhauses entzogen, der Lehrcr greist,
wenn auch oberflächlich, in die Erziehung ein. Die körperliche
Züchtignng, die als Erziehungsmittel der Eltern schon wenig
güiistig beurtcilt ist, durch dritte Personen wird vollständig
verpönt.

Frühgeitig beginnt, kaum von dem liebevollsten und anf-
merksamsten Beobachter lvahrgenommen, die Geschlechisentivick-
lung, sich häufig in einer sehnsuchtsvollen. ichwärmerische»
Weltbetrachrüng äutzernd. Mätzige Mhärtimg, körperliche
Uebungen, passcnde Leksiirc, Anregung zum Experimcntiererr
wirken dem entgcgen und iveckcn dcn Wirklichkeitssinn. Der
Hinweis auf die Vorgänge in der Natur läht schrittweise, all-
mählich cine Ausklüruug zu, so datz der Kuabe, ohne das Ge-
fühl zu haben, jeht erfahre ich etwas ganz besonderes oder
jetzt werde ich ausgekläri, zu wissen bekommt, worauf die Fort-
pflanzung des Menschengeschlechts beruht. Bei erwachender
Sinnlichkeit ist dann sovicl Kcnntnis vorhandcn, datz die phan-
tastischen Fdeen. dcncn das Uiiglaublichste noch glanblich er-
scheint, keinen Platz mchr finden, das Unkensche ist genommen
und manche Jngendsünde mit ihren schlimmeu Folgen für Ge-
simdheit und Charakterbildüiig wird untcrbleiben. Auf dieser
Grundlage wird der junge Mensch dann leicht weiter zu er-
ziehen nnd zur vollcn Kenntnis zu führen sein, der Vater
wird ihm Vertrauter, mit dem er über allcs svrechen kann.

Den Schwierigkeiten verschlietzt sich der Versaffer keines-
wegs; er verkennt nicht, dah die in Kirche und Schule ge-
predigte Moral sich mit der herrschenden Geflll-
schaftsmoral nicht vereinbaren lätzt, datz jene im Leben nicht
durchführbar ist. Richtig hat er d>en Dualismus z-wischen der
gesunden, unseren Lebensvcrhältniffen und Dasciiisbedingnngen
entsprechenden imd dcr unnatürlichen, falschc Jdcale aufstel-
lenden, die Wirklichkeit nicht berücksichtiaenden Moral ergründet:
Natürliche Simnlichkcit. SelbsterhaltungSiricb. Wcltfreude
einerseits, Verzicht aus diese, Abtösimg flenchlickier Gelüste
nnd dabei noch überinätzige M'tonnng dcs GcschlcchtslcbenS
auf der anderen Seite. Dort däs mächtige Gesühl der Liebe„
das Streben, die Persönlichkcit zu crhaltcn und im kommcnden
Geschlechte sortzuseiien. bier Verleugnen allcr Naturtriebe, Auf-
gabe des eigenen Selb^t.

Welch eine Klirft zwischen dieser Weltanschanung, die an
den Menschen das Verlanaen einer Selbstentäutzerimg, das er
nic ersüllcn kann. stcllt. nnd der van aller Welt betätigtcnl
Lätzt cs sich Verkcvneii. datz dieser Widcrspruch die grötzte Ge-
fabr sür den in der Entwicklung begriffenen jungen Mensckien
bildet? Wird er nicht gerade dadurch zur begucmen Gesell-
schaflsmoral htngedrängt, daß er das als erstrebenswerteK
Fdeal Gezeigte als imerreichbar, übcr seine .Kraft gehcnd er-
kcnnt, wenn ihm nickit ein seinem natürlichen Emvsindcn ent-
sprcchendcs. die irdischen Frenden nicht verachtcndes, aber auch
nicht überschäkendcs Lebcn als gut, wenn ibm nicht ein seirr
Tu«n imd Handeln lcsiendes, crreichbares, edlcs Ziel vor Angen
gestellt wird?

Dr. mcd. Friedrich SieberT: ,.E i n B u ch für
Eltern". 17 ,.D c n Bätcrn bcranrcifcnder

Söbne". sSeiii n. Schmier, München.i Auch zu beziehen
von der Heidelberger B e r la g s a n sta I t Hörning ir.
Berkenbusch^ Heidelberg.
 
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