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Die Kunst-Halle — 10.1905

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Nummer 4 (15. November 1904)
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Scheffers, Otto: Einiges über den Zeichenunterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.66262#0064

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Nr. 4

artikeln überſchwemmten mit einem Male den Bildungs-
philiſter und, da man doch einen Prügelknaben brauchte,
dem man die Schuld an der Kunſtmiſere zuſchreiben
konnte, haute man (das genannte Buch hatte recht
deutlich auf ihn hingewieſen) auf den Seichenlehrer und
ſeine Methode ein, und unter den Seichenlehrern ſelber
erhoben ſich genug charakterloſe Renegaten, die ſchleunigſt
ihre Methode nach dem Willen der Menge um-
krempelten und nun, als ob's ſchon immer ſo geweſen
wäre, mit auf die anderen Seichenlehrer einhauten.
Sie machten ſich die Sache ſehr bequem, anſtatt auf
der Grundlage des bisher ESrrungenen weiter zu bauen
und die Methode zeitgemäß auszugeſtalten, erklärten ſie
Alles, was man bis dahin für hoch und heilig ge-
halten hatte, für null und nichtig, und hoben Alles in
den Himmel, was die ältere Pädagogik beiſeite ge-
ſchoben hatte. Sie benutzten alſo ein ſehr bekanntes
Agitationsrezept, das des Beifalls der großen Menge
immer ſicher iſt, und ſo hatten die ſogenannten
Reformer des Seichenunterrichts gute Tage. Mit
Dauken und Trompeten hielten ſie Wandervorträge
und machten ein ſo gewaltiges Aufheben von dem
Seichenunterricht, daß man glauben konnte, ohne den
Seichenunterricht im modernen Sinne müßte die Welt
zu Grunde gehen. Ghne weitere Prüfung ſchloſſen ſich
ihnen die Kunſtreporter großer Seitungen an, Schul-
behörden hörten den Lärm und änderten ſchleunigſt
die Lehrpläne, damit um Gotteswillen die Schulen
ihrer Obhut nicht in den Ruf der Rückſtändigkeit
kämen. Was Wunder, wenn da einem, der der Sache
fern ſteht, ſchließlich mal der Geduldfaden reißt, wenn
hier und da einer energiſch Proteſt erhebt und ſich
Ruhe erbittet. Auch der Artikel der „Nunſt⸗Halle“:
„Der Kultus des Kindes und die Kunſt“ (Nr. | dieſes
Jahrgangs“) ſcheint dieſem Sorngefühl entſprungen zu
ſein. Er verurtheilt, und meines Erachtens nach mit
Recht, das übertriebene Geprahle von der Kunſt-
erziehung, aber er geht zu weit und unterſchätzt den
Werth des Seichenunterrichts als Mittel zur Erzielung
einer allgemeinen harmoniſchen Ausbildung der Geiſtes-
kräfte. Ich will dem Herrn Derfaſſer nicht auf allen
ſeinen Gedankengängen folgen und nur auf den zuletzt
erwähnten Punkt etwas näher eingehen.

Die Pſychologen behaupten, daß 0 aller Sinnes-
Eindrücke durch das Auge vermittelt würden. Mit
dieſer Thatſache ſteht in kraſſem Widerſpruch die
weitere Thatſache, daß in der Schule als Singangs-
pforte für die Aufnahme von Geiſteseindrücken in ½⁰
aller Fälle nicht das Auge, ſondern das Ohr benutzt
wird. Reden, reden und wieder reden iſt der Anfang
und das Ende des Schulunterrichts, das abſtrakte
Denken, das Lernen von Worten, Sahlen und Phraſen
ſtehen im Vordergrunde des Schulunterrichtes, das
Sehen, Beobachten, Selbſtſchaffen, Selbſterfinden wird
faſt gar nicht geübt. Der Sprachunterricht giebt den
Ausſchlag bei Beurtheilung der Schüler, bei Ver-
ſetzungen u. ſ. w., die Mathematik ſteht in zweiter Reihe,

wird aber auch in vielen Fällen mehr im rechneriſchen
Sinne (unter Sugrundlegung von auswendig gelernten
Formeln) als im konſtruktiven, erfinderiſchen Sinne be-
trieben. Geſchichte, Naturkunde und Geographie be-
ſchränken ſich in der Hauptſache auch auf mechaniſche-
Auswendiglernen des gegebenen Lehrſtoffes, wenn auch
eine Beſſerung in der Unterrichtsmethode in den letzten
Jahren nicht zu verkennen iſt. Beim deutſchen Aufſatz,
der Gelegenheit zum ſelbſtſtändigen Schaffen böte,
werden vorerzählte Geſchichten reproduzirt, wird der
Charakter irgend einer Perſon mit etwas anderen
Worten „nachgeſchildert“, oder wird der Schüler an-
gehalten, über irgend einen geringfügigen Gedanken,
eine halbe Wahrheit, eine Phraſe, recht viel Worte zu
machen, anſtatt dazu, einen großen Gedanken oder eine
komplizirte Sache mit den denkbar wenigſten Worten
klar zu legen. Der Seichenunterricht nun bietet nach
Anſicht der Seichenlehrer verhältnißmäßig noch die
meiſte Gelegenheit, den Schüler zum Selbſtſchaffen an-
zuregen und ihn dadurch zu einem brauchbaren Gliede
der Geſellſchaft zu machen.

Es haben ſich berufenere Perſonen, als ich es bin,
über dieſen beſonderen Werth des Seichenunterrichts
verbreitet, und in den letzten Jahren allein haben ſich
geradezu Hunderte von Autoritäten aus allen Gebieten
menſchlicher Geiſtesarbeit in dieſem Sinne über das
Seichnen ausgeſprochen. Es ſeien hier einige ihrer
Aeußerungen wiedergegeben:

(W. Stier.) „Das Seichnen iſt vorwiegend eine
Gymnaſtik des Geiſtes, bei welcher die Beobachtung,
der Verſtand, die Phantaſie und das allgemeine Form-
gefühl in gleicher Weiſe in Anſpruch genommen und
geſchult werden. In dieſem Sinne gefaßt und mit der
Jugend gehandhabt, gehört das Seichnen zu den
wichtigſten Bildungsmitteln des Geiſtes.“

(Rud. Hildebrandt.) „Die Sinne werden in unſerer
abſtrakten Seit bei der Jugend viel zu wenig gepflegt
und gebildet, und doch iſt ſcharfes Sehen der beſte
Anfang zu ſcharfem — ſetzen wir hinzu, geordnetem —
Denken.“

Dr. von Bezold.) „Die große Bedeutung des
Seichnens in der Geſammtheit der geiſtigen Ausbildung
wird von der Mehrzahl der philologiſch oder, wie man
ſagt, klaſſiſch Gebildeten vollkommen verkannt.“

(Rud. Leuckart.) „Was man zeichnen will, muß
man genau unterſuchen: das Seichnen zwingt alſo den
Beobachter, ſcharf zu beobachten und das Beobachtete
plaſtiſch zu geſtalten. Und nur der iſt ein Forſcher, der
es verſteht, zu beobachten und zu deuten.“

(Virchow.) „Gerade für uns Mediziner erhebt ſich
aber die größte Beſorgniß inſofern, als wir finden, daß
jede neue Generation von Studierenden weniger ge-
ſchult iſt, ihre Sinne zu gebrauchen.“

(Dr. Karl Vogt in Genf.) „Wo es ſich aber, wie
in den Laboratorien, hauptſächlich um Formgeſtaltungen,
um morphologiſche Dinge handelt, da rathe ich Ihnen,
unabläſſig den Seichenſtift zur Hand zu haben, nicht
 
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