Nr. 5
wonnen hat: Unſer Interviewer erzählt, daß er immer
gern die Figur ſtreichelt, vielleicht giebt ihm die reiche
Schatten⸗ und Flächenwirkung den Eindruck des
„Moelleux“ der nackten, ſammetartigen Menſchenhaut
wieder.
Wo das Bewußte mit dem Unbewußten ringt, be-
ginnt das Reich Auguſte Rodins; ſein ſo ſpezifiſcher
„Gedanke des Mannes“ findet in ihm ſeine Erklärung.
Aus dem Felſen entſteht unter dem liebesmächtigen Kuſſe
die Weichheit des Weibes. Dieſes Weib ſeines Ge-
dankens ſucht er auch in der Antike! Es mag ganz
bezeichnend ſein, daß uns die doriſchpolykletiſche Schule
keinen weiblichen Idealtyp, wie den männlichen im
Doryphoros geſchaffen hat. Bei dieſem ſtrengen Krieger-
ſtamme ſpielte das Weib eine noch durchaus unter-
geordnete Rolle im Gegenſatz zu den kulturweicheren
Inſelſtaaten: man denke nur an die Lesbierin Sappho.
— Der weibliche Körper ſteht auch dem peloponneſiſchen
Formideal feindlich gegenüber. Das rund ausladend
Nervorſpringende von Bruſt und Hüfte läßt ſich un-
möglich in das „viereckige“ Liniengefüge der Geometrie
einzwängen, die das Charakteriſtikum des „Speer-
trägers“ ausmacht. So iſt es denn nicht zu einem nackten
weiblichen „Kanon“ gekommen. Die einzige, freilich
bekleidete Frauenfigur, die uns von Polpklet überliefert
iſt: „Die verwundete Amazone“ iſt dem Männerideale
ganz augenſcheinlich ſtark genähert, die Seit fand halt
die männliche Körperform viel ſchöner als die weibliche.
Rodin will das Liebende, Unbewußte, was im
Weibe entſchieden mehr hervortritt; Rodin will auch
die Antike. So muß er ſie denn in einer Seit ſuchen,
die mehr unſer modernes Empfinden befriedigt, die ſich
ſelbſt nach dem Weibe ſehnt, das ihr mit ſeiner orien-
taliſchen Allmacht, ſeiner Aſtarte, ſeinem liebeskranken
Babylon durch die Welten verbindenden Feldzüge
Alexanders des Großen gebracht wird: es iſt die Seit
des Hellenismus. Rodin ſelbſt gebraucht von ihr den
Ausdruck: „morbidezza“.
*
Es befindet ſich im Muſeum zu Neapel eine kleine
Statuette: der kopf- und armloſe Torſo eines jungen
in die Knie geſunkenen Weibes, bekleidet mit dem auf
der rechten Seite offenen Chiton. Die weiche Formen-
und Faltengebung deuten mit Beſtimmtheit auf ein
Monument der ſpätgriechiſchen Seit. — Rodin bekam
davon eine photographiſche Aufnahme zu Geſicht, und
er war ganz entzückt von der „klaſſiſchen“ Schönheit
dieſer Figur. Hier ſcheint ihm die längſt geſuchte
„Wahrheit“ zu liegen, hier vereinigen ſich für ihn
Natur und Vunſt zur ſelbſtverſtändlich einfachſten Er-
habenheit — er ſaugt mit echtem Künſtler-Enthuſiasmus
die wohlig-weiche Linie in Büſte und Hüfte, in der
Kniebewegung auf: „Nur die Uatur hat das Modell
dirigirt.“ Und dann folgert er ſo begeiſtert, wie ſchon
berichtet, auf das antike Verhältnis von Natur und
Kunſt, von Modell und Vünſtler, ſeine kunſterzieheriſche
Meinung daran anknüpfend.
Mit dieſer Photographie war ihm auch noch das
Fragment einer antiken Hand zugegangen, von der
eigentlich nur noch wenig vorhanden war: dicht am
Gelenk abgebrochen fehlten ihr auch noch ſämmtliche
Finger. Und das gerade machte den Licht-Schatten-
künſtler reizen, daß nur noch das ganz Maſſige, der
breitflächige Handteller beſtand; jedes Lineare in den
langen Fingern und ihren ſo einſchneidenden Gelenken
war damit verſchwunden. Sein ſo lebendiges Form-
empfinden konnte nun von dem ſchattenbewegten Hand-
rücken⸗Torſo auf die ungeheuere Beweglichkeit der
gleichſam greifenden Finger ſchließen. Sobald das
äußerliche Lineament ausgeſchaltet iſt, kann ihm das
innere weit mehr ſagen.
Aber im Grunde genommen, iſt das doch recht un-
antik verſtanden: die klaſſiſche Band hat nur ihre
eigentliche Bedeutung als Glied der großen Maſchine
PDroportionalismus. Aus dieſer Verhältnißmäßigkeit
herausgeriſſen kann ſie uns nur ein äußerſt ſekundäres
Intereſſe abnöthigen. Denn für uns iſt die Harmonie
damit unterbrochen.
Doch für Rodin nicht! Es iſt gerade ein Seichen
für die übermächtige Perſönlichkeit unſeres Meiſters,
daß er den antiken Begriffen von Harmonie, Sym-
metrie und Eurythmie ſo den Stempel ſeines ur-
eigenſten Fühlens aufgedrückt hat. Dem Alten bedeuten
ſie ſcharfe Begrenzung, ihm, dem Neuen, weichen
Uebergang; wie er das meint, zeigt er uns auf ſeinen
Bewegungsſtudienblättern, mit denen er Aehnliches will,
wie die griechiſche Vaſenmalerei. Und für ſeinen Theil
hat er vollkommen Recht! Während der Kunſt-
hiſtoriker dem Geiſte jener vergangenen Seiten getreu
ihre Werke kritiſch zu ſichten hat, mag und muß der
Künſtler alles Geſchehene aus ſeinem großen Mikro-
kosmus als ein treues Kind ſeines eigenen Jahrhunderts
betrachten. Sei es auch, daß wir in intellektualiſtiſchere
Bahnen einlenken, unſeren doch entſchieden höheren
Individualismus im Gegenſatz zur helleniſchen
Kultur ſoll Niemand leugnen! —
Ein mächtiges „Werde, was Du biſt!“ ruft uns
Auguſte Rodin's Anſicht über die Antike zu, gegenüber
einem ſchwächlichen „Sein, was Du nur ſcheinſt!“
Neu entdeckte Fresken.
Bon M Ukgraſſe, Rom,
in Italien nicht viel Kirchen geweiht hat. Zu S.
Bartolomeo in Venedig mit ſehr verwahrloſten Ge-
mälden Sebaſtiano del Piombos und S. Bartolomeo in
Bologna mit ſeiner eleganten Pfeilerhalle geſellt ſich die
D. Apoſtel Bartholomäus iſt ein Heiliger, dem man
wonnen hat: Unſer Interviewer erzählt, daß er immer
gern die Figur ſtreichelt, vielleicht giebt ihm die reiche
Schatten⸗ und Flächenwirkung den Eindruck des
„Moelleux“ der nackten, ſammetartigen Menſchenhaut
wieder.
Wo das Bewußte mit dem Unbewußten ringt, be-
ginnt das Reich Auguſte Rodins; ſein ſo ſpezifiſcher
„Gedanke des Mannes“ findet in ihm ſeine Erklärung.
Aus dem Felſen entſteht unter dem liebesmächtigen Kuſſe
die Weichheit des Weibes. Dieſes Weib ſeines Ge-
dankens ſucht er auch in der Antike! Es mag ganz
bezeichnend ſein, daß uns die doriſchpolykletiſche Schule
keinen weiblichen Idealtyp, wie den männlichen im
Doryphoros geſchaffen hat. Bei dieſem ſtrengen Krieger-
ſtamme ſpielte das Weib eine noch durchaus unter-
geordnete Rolle im Gegenſatz zu den kulturweicheren
Inſelſtaaten: man denke nur an die Lesbierin Sappho.
— Der weibliche Körper ſteht auch dem peloponneſiſchen
Formideal feindlich gegenüber. Das rund ausladend
Nervorſpringende von Bruſt und Hüfte läßt ſich un-
möglich in das „viereckige“ Liniengefüge der Geometrie
einzwängen, die das Charakteriſtikum des „Speer-
trägers“ ausmacht. So iſt es denn nicht zu einem nackten
weiblichen „Kanon“ gekommen. Die einzige, freilich
bekleidete Frauenfigur, die uns von Polpklet überliefert
iſt: „Die verwundete Amazone“ iſt dem Männerideale
ganz augenſcheinlich ſtark genähert, die Seit fand halt
die männliche Körperform viel ſchöner als die weibliche.
Rodin will das Liebende, Unbewußte, was im
Weibe entſchieden mehr hervortritt; Rodin will auch
die Antike. So muß er ſie denn in einer Seit ſuchen,
die mehr unſer modernes Empfinden befriedigt, die ſich
ſelbſt nach dem Weibe ſehnt, das ihr mit ſeiner orien-
taliſchen Allmacht, ſeiner Aſtarte, ſeinem liebeskranken
Babylon durch die Welten verbindenden Feldzüge
Alexanders des Großen gebracht wird: es iſt die Seit
des Hellenismus. Rodin ſelbſt gebraucht von ihr den
Ausdruck: „morbidezza“.
*
Es befindet ſich im Muſeum zu Neapel eine kleine
Statuette: der kopf- und armloſe Torſo eines jungen
in die Knie geſunkenen Weibes, bekleidet mit dem auf
der rechten Seite offenen Chiton. Die weiche Formen-
und Faltengebung deuten mit Beſtimmtheit auf ein
Monument der ſpätgriechiſchen Seit. — Rodin bekam
davon eine photographiſche Aufnahme zu Geſicht, und
er war ganz entzückt von der „klaſſiſchen“ Schönheit
dieſer Figur. Hier ſcheint ihm die längſt geſuchte
„Wahrheit“ zu liegen, hier vereinigen ſich für ihn
Natur und Vunſt zur ſelbſtverſtändlich einfachſten Er-
habenheit — er ſaugt mit echtem Künſtler-Enthuſiasmus
die wohlig-weiche Linie in Büſte und Hüfte, in der
Kniebewegung auf: „Nur die Uatur hat das Modell
dirigirt.“ Und dann folgert er ſo begeiſtert, wie ſchon
berichtet, auf das antike Verhältnis von Natur und
Kunſt, von Modell und Vünſtler, ſeine kunſterzieheriſche
Meinung daran anknüpfend.
Mit dieſer Photographie war ihm auch noch das
Fragment einer antiken Hand zugegangen, von der
eigentlich nur noch wenig vorhanden war: dicht am
Gelenk abgebrochen fehlten ihr auch noch ſämmtliche
Finger. Und das gerade machte den Licht-Schatten-
künſtler reizen, daß nur noch das ganz Maſſige, der
breitflächige Handteller beſtand; jedes Lineare in den
langen Fingern und ihren ſo einſchneidenden Gelenken
war damit verſchwunden. Sein ſo lebendiges Form-
empfinden konnte nun von dem ſchattenbewegten Hand-
rücken⸗Torſo auf die ungeheuere Beweglichkeit der
gleichſam greifenden Finger ſchließen. Sobald das
äußerliche Lineament ausgeſchaltet iſt, kann ihm das
innere weit mehr ſagen.
Aber im Grunde genommen, iſt das doch recht un-
antik verſtanden: die klaſſiſche Band hat nur ihre
eigentliche Bedeutung als Glied der großen Maſchine
PDroportionalismus. Aus dieſer Verhältnißmäßigkeit
herausgeriſſen kann ſie uns nur ein äußerſt ſekundäres
Intereſſe abnöthigen. Denn für uns iſt die Harmonie
damit unterbrochen.
Doch für Rodin nicht! Es iſt gerade ein Seichen
für die übermächtige Perſönlichkeit unſeres Meiſters,
daß er den antiken Begriffen von Harmonie, Sym-
metrie und Eurythmie ſo den Stempel ſeines ur-
eigenſten Fühlens aufgedrückt hat. Dem Alten bedeuten
ſie ſcharfe Begrenzung, ihm, dem Neuen, weichen
Uebergang; wie er das meint, zeigt er uns auf ſeinen
Bewegungsſtudienblättern, mit denen er Aehnliches will,
wie die griechiſche Vaſenmalerei. Und für ſeinen Theil
hat er vollkommen Recht! Während der Kunſt-
hiſtoriker dem Geiſte jener vergangenen Seiten getreu
ihre Werke kritiſch zu ſichten hat, mag und muß der
Künſtler alles Geſchehene aus ſeinem großen Mikro-
kosmus als ein treues Kind ſeines eigenen Jahrhunderts
betrachten. Sei es auch, daß wir in intellektualiſtiſchere
Bahnen einlenken, unſeren doch entſchieden höheren
Individualismus im Gegenſatz zur helleniſchen
Kultur ſoll Niemand leugnen! —
Ein mächtiges „Werde, was Du biſt!“ ruft uns
Auguſte Rodin's Anſicht über die Antike zu, gegenüber
einem ſchwächlichen „Sein, was Du nur ſcheinſt!“
Neu entdeckte Fresken.
Bon M Ukgraſſe, Rom,
in Italien nicht viel Kirchen geweiht hat. Zu S.
Bartolomeo in Venedig mit ſehr verwahrloſten Ge-
mälden Sebaſtiano del Piombos und S. Bartolomeo in
Bologna mit ſeiner eleganten Pfeilerhalle geſellt ſich die
D. Apoſtel Bartholomäus iſt ein Heiliger, dem man