Nr. 5
Für ihn ſtellt ſich die Antike, „die Kunſt der großen
Flächen und der weiten Schatten“, als natürliches
Momentbild dar, nicht als Abſtraktion proportionaler
Konſtruktionen, was ſie doch zum Mindeſten in ihrer
klaſſiſchſten Zeit war; mit dem genialſten Enthuſiasmus
des ſtürmenden, drängenden Romantikers verweiſt er
darum auch die uns ja als ſo ganz ſicher bekannten
Schönheits- und Einheitsmaße der doriſchpeloponneſiſchen
Schule ins Fabelreich der gelehrten Spitzfindigkeit, nur
eine Regel kenne die klaſſiſche Kunſt: die Natur, die ſie
allſeitig ſo wunderbar beobachtet hätte.
Will man ſie erlernen, ſo darf man daher auch
nicht im Antikenſaale anfangen, ſondern allein bei der
Natur. Macht doch nicht der Typus die Antike aus,
vielmehr einzig die Art der plaſtiſchen Behandlung:
je modele! Drum muß denn an Stelle der bisher
geübten Gepflogenheit der zweiſeitigen Aufnahme der
beiden Profile“, eine gleichmäßige Berückſichtigung aller
Seiten, d. B. aller Profile eintreten; der Künſtler darf
ſich nicht mehr mit der einen Abzeichnung der ihm
nur ganz zufällig zugewandten Seite des Ateliermodells
begnügen, er muß ſein Objekt in der Runde umſchreiten!
Und dieſe Anſicht Rodins ſtimmt auch mit den guten
Stiltraditionen aus dem Alterthum überein: auch bei
der dem Betrachter durchaus unerkennbaren, der Giebel-
wand zugedrehten Seite der großen Giebelſkulpturen
vom Parthenon und von Olympia iſt noch genau die-
ſelbe ſorgfältigſte Arbeit verwandt, wie bei der vorderen
Schauſeite. Erſt ſpätere flüchtigere Geſchlechter laſſen
dieſe Gewiſſenhaftigkeit des Meißels vermiſſen.
So ſteigert ſich denn Rodin's Forderung folgerichtig
bis zum Verwerfen jeglichen Ateliermodells; wie die
Alten ſollen nun auch unſere Jungen ihren Vorwurf
auf Markt und Straßen ſuchen, auf der Manege und
im Flußbade, unſeren Palaeſtren und Thermen. — Wie
richtig und vernünftig das auch für unſere Kunft-
erziehung gemeint ſein mag, ſo wenig entſpricht es der
Uebung der Ulaſſiker: ſolch' ein Meiſter nahm wohl
nur ganz geringe bewegungstechniſche Aufzeichnungen
mit nach Hauſe; dort aber erſt ſuchte er ähnlich wie
Dürer nach der „mittleren“ Form — „von Allem iſt das
Mittel das Beſte“ (Pythagoras) — mit Hülfe des feſten
Sahlenverhältniſſes: des „Kanon“. Ein direktes Arbeiten
nach Modell treffen wir erſt in der helleniſtiſchen Seit
des Cyſipp. Bei Phidias, dem Künſtler des Parthenon,
bei Polyklet, Myron, ja wohl auch noch bei dem doch
ſchön entſchieden weicheren Praxiteles dürfen wir nur
ſchwerlich ſei es Straßen- ſei es Atelier⸗Modelle ſuchen.
— Als allein trefflich Richtiges bleibt in Rodin's An-
ſicht das „Früher“ der Naturbeobachtung beſtehen;
denn nur auf dieſem Wege kann eine organiſche Er-
ziehung zur allein wahren Antike werden!
Die Wahrheit über Alles! — Die Natur über
Alles! Für Rodin aber iſt die Natur nicht die ſtreng
gezeichnete, begrenzte Verhältnißſchönheit der doriſchen
natürlichſten Innern entſprechend halb Stoff, halb
Form; über Michelangelo reicht er der Antike die Fand,
doch nicht der überwiegend peloponneſiſchen Antike des
V. Jahrhunderts, zu der er ganz unmöglich jemals ein
mehr als äußeres Verhältnis gewinnen kann: ſein Herz
liegt bei den Orientalen — Aegypten und Aſſyrien —
bei den Joniern, bei den Relleniſten. Wie Eugene
Carrière freut er ſich faſt lediglich an der einheitlichen
Geſchloſſenheit der Maſſe als ſolcher; von dem ſcharfen
Gliederabſetzen, von der hineingeſehenen Liniengeometrie,
die doch in aller ihrer Ueberſichtlichkeit die geſammte
griechiſche Kunſtgeſchichte beherrſcht, weiß er freilich
nichts zu betonen. So z. B. nimmt er einen Sperber,
einen Ibis, eine Katze, ägyptiſche Kleinplaſtiken, deren
Oberfläche an ſich wegen der noch dazu zu nehmenden
bekannten erdig ſtumpf farbigen Seichnung völlig un-
eigentlich gar nicht angegebenen Felles oder Gefieders,
das ſich für ihn aber deſto lebenswahrer in der größeren
Schattenwirkung darſtellt; ja ſo weit geht für ihn dieſe
Illuſion, daß er in den Vögeln ein Fortfliegen zu ſehen
meint, daß er beim Streichen über das Steinkätzchen
das Mollige der Haare fühlen will!
Georges Toudouze erzählt uns, er habe einſt bei
einem Beſuche im Atelier unſeres Meiſters mitten unter
all den grandioſen Thaten des eigenen Meißels: den
„Bürgern von Calais“, der „Höllenpforte“, dem „Ruſſe“,
vielen der berühmten Porträtbüſten u. ſ. f., den Abguß
des „Apollo von Orchomenos“ gefunden.
Jedem, der ſein Auge nur einigermaßen auf die
Formſchönheit der klaſſiſchen Linienkunſt eingeſtellt hat,
muß dieſe älteſte Faſſung der drei uns bekannten
aſiatiſch-joniſchen Apollotypen in ihrer grotesk häßlichen
Maſſigkeit durchaus abſtoßend vorkommen; hier waltet
ein ganz ſicherer ägyptiſcher Einfluß; von einer Theilung
im ſpäteren Sinne iſt hier auch noch nicht im Ent-
fernteſten die Rede. Das Profil, die breitgequetſchte
Naſe, die wulſtigen Lippen fallen ohne jeden lindernden
Abſatz oder Vorſprung in den einen Klumpen des
Kopfes, deſſen Scheitelhöhe hinter ſeiner Achſe liegt;
an dem ganz maſſig gedrungenen Rumpfe kleben un-
gelöſte Arme, über die beiden Brüſte laufen zwei ganz
unorganiſche ſcharfe Grate, wie wir ſie vielleicht nur
ähnlich in der Behandlung des zu hohen und zu hori-
zontalen Schlüſſelbeins bei Figuren derſelben Candſchaft
und Periode antreffen. Das Einzige, was uns Zukünftiges
doch noch ahnen laſſen kann, iſt die im Ganzen doch
ſchon — wenigſtens entſchieden mehr als in Aegypten
vorkommende — „quadrate“ Hörperbehandlung — be-
ſonders am Halſe —, die ja dann in Polyklet, „dem
ruhenden Punkt in der Erſcheinungen Flucht“, ihren
höchſten Triumph feiern ſollte. — Für Rodin aber hat
gerade dieſer Apoll aus Orchomenos ſeines Aegypti-
ſirens wegen die reizvollſte Bedeutung: „les grands
plans et les grandes ombres!““ — Eine mehr lineare
Ausarbeitung würde nur dieſes Suſammenfaſſen für
ihn zerlegend verkleinern. Es iſt möglich, daß er auch
hier wieder ſtoffliches Intereſſe an der Gberfläche ge-
Für ihn ſtellt ſich die Antike, „die Kunſt der großen
Flächen und der weiten Schatten“, als natürliches
Momentbild dar, nicht als Abſtraktion proportionaler
Konſtruktionen, was ſie doch zum Mindeſten in ihrer
klaſſiſchſten Zeit war; mit dem genialſten Enthuſiasmus
des ſtürmenden, drängenden Romantikers verweiſt er
darum auch die uns ja als ſo ganz ſicher bekannten
Schönheits- und Einheitsmaße der doriſchpeloponneſiſchen
Schule ins Fabelreich der gelehrten Spitzfindigkeit, nur
eine Regel kenne die klaſſiſche Kunſt: die Natur, die ſie
allſeitig ſo wunderbar beobachtet hätte.
Will man ſie erlernen, ſo darf man daher auch
nicht im Antikenſaale anfangen, ſondern allein bei der
Natur. Macht doch nicht der Typus die Antike aus,
vielmehr einzig die Art der plaſtiſchen Behandlung:
je modele! Drum muß denn an Stelle der bisher
geübten Gepflogenheit der zweiſeitigen Aufnahme der
beiden Profile“, eine gleichmäßige Berückſichtigung aller
Seiten, d. B. aller Profile eintreten; der Künſtler darf
ſich nicht mehr mit der einen Abzeichnung der ihm
nur ganz zufällig zugewandten Seite des Ateliermodells
begnügen, er muß ſein Objekt in der Runde umſchreiten!
Und dieſe Anſicht Rodins ſtimmt auch mit den guten
Stiltraditionen aus dem Alterthum überein: auch bei
der dem Betrachter durchaus unerkennbaren, der Giebel-
wand zugedrehten Seite der großen Giebelſkulpturen
vom Parthenon und von Olympia iſt noch genau die-
ſelbe ſorgfältigſte Arbeit verwandt, wie bei der vorderen
Schauſeite. Erſt ſpätere flüchtigere Geſchlechter laſſen
dieſe Gewiſſenhaftigkeit des Meißels vermiſſen.
So ſteigert ſich denn Rodin's Forderung folgerichtig
bis zum Verwerfen jeglichen Ateliermodells; wie die
Alten ſollen nun auch unſere Jungen ihren Vorwurf
auf Markt und Straßen ſuchen, auf der Manege und
im Flußbade, unſeren Palaeſtren und Thermen. — Wie
richtig und vernünftig das auch für unſere Kunft-
erziehung gemeint ſein mag, ſo wenig entſpricht es der
Uebung der Ulaſſiker: ſolch' ein Meiſter nahm wohl
nur ganz geringe bewegungstechniſche Aufzeichnungen
mit nach Hauſe; dort aber erſt ſuchte er ähnlich wie
Dürer nach der „mittleren“ Form — „von Allem iſt das
Mittel das Beſte“ (Pythagoras) — mit Hülfe des feſten
Sahlenverhältniſſes: des „Kanon“. Ein direktes Arbeiten
nach Modell treffen wir erſt in der helleniſtiſchen Seit
des Cyſipp. Bei Phidias, dem Künſtler des Parthenon,
bei Polyklet, Myron, ja wohl auch noch bei dem doch
ſchön entſchieden weicheren Praxiteles dürfen wir nur
ſchwerlich ſei es Straßen- ſei es Atelier⸗Modelle ſuchen.
— Als allein trefflich Richtiges bleibt in Rodin's An-
ſicht das „Früher“ der Naturbeobachtung beſtehen;
denn nur auf dieſem Wege kann eine organiſche Er-
ziehung zur allein wahren Antike werden!
Die Wahrheit über Alles! — Die Natur über
Alles! Für Rodin aber iſt die Natur nicht die ſtreng
gezeichnete, begrenzte Verhältnißſchönheit der doriſchen
natürlichſten Innern entſprechend halb Stoff, halb
Form; über Michelangelo reicht er der Antike die Fand,
doch nicht der überwiegend peloponneſiſchen Antike des
V. Jahrhunderts, zu der er ganz unmöglich jemals ein
mehr als äußeres Verhältnis gewinnen kann: ſein Herz
liegt bei den Orientalen — Aegypten und Aſſyrien —
bei den Joniern, bei den Relleniſten. Wie Eugene
Carrière freut er ſich faſt lediglich an der einheitlichen
Geſchloſſenheit der Maſſe als ſolcher; von dem ſcharfen
Gliederabſetzen, von der hineingeſehenen Liniengeometrie,
die doch in aller ihrer Ueberſichtlichkeit die geſammte
griechiſche Kunſtgeſchichte beherrſcht, weiß er freilich
nichts zu betonen. So z. B. nimmt er einen Sperber,
einen Ibis, eine Katze, ägyptiſche Kleinplaſtiken, deren
Oberfläche an ſich wegen der noch dazu zu nehmenden
bekannten erdig ſtumpf farbigen Seichnung völlig un-
eigentlich gar nicht angegebenen Felles oder Gefieders,
das ſich für ihn aber deſto lebenswahrer in der größeren
Schattenwirkung darſtellt; ja ſo weit geht für ihn dieſe
Illuſion, daß er in den Vögeln ein Fortfliegen zu ſehen
meint, daß er beim Streichen über das Steinkätzchen
das Mollige der Haare fühlen will!
Georges Toudouze erzählt uns, er habe einſt bei
einem Beſuche im Atelier unſeres Meiſters mitten unter
all den grandioſen Thaten des eigenen Meißels: den
„Bürgern von Calais“, der „Höllenpforte“, dem „Ruſſe“,
vielen der berühmten Porträtbüſten u. ſ. f., den Abguß
des „Apollo von Orchomenos“ gefunden.
Jedem, der ſein Auge nur einigermaßen auf die
Formſchönheit der klaſſiſchen Linienkunſt eingeſtellt hat,
muß dieſe älteſte Faſſung der drei uns bekannten
aſiatiſch-joniſchen Apollotypen in ihrer grotesk häßlichen
Maſſigkeit durchaus abſtoßend vorkommen; hier waltet
ein ganz ſicherer ägyptiſcher Einfluß; von einer Theilung
im ſpäteren Sinne iſt hier auch noch nicht im Ent-
fernteſten die Rede. Das Profil, die breitgequetſchte
Naſe, die wulſtigen Lippen fallen ohne jeden lindernden
Abſatz oder Vorſprung in den einen Klumpen des
Kopfes, deſſen Scheitelhöhe hinter ſeiner Achſe liegt;
an dem ganz maſſig gedrungenen Rumpfe kleben un-
gelöſte Arme, über die beiden Brüſte laufen zwei ganz
unorganiſche ſcharfe Grate, wie wir ſie vielleicht nur
ähnlich in der Behandlung des zu hohen und zu hori-
zontalen Schlüſſelbeins bei Figuren derſelben Candſchaft
und Periode antreffen. Das Einzige, was uns Zukünftiges
doch noch ahnen laſſen kann, iſt die im Ganzen doch
ſchon — wenigſtens entſchieden mehr als in Aegypten
vorkommende — „quadrate“ Hörperbehandlung — be-
ſonders am Halſe —, die ja dann in Polyklet, „dem
ruhenden Punkt in der Erſcheinungen Flucht“, ihren
höchſten Triumph feiern ſollte. — Für Rodin aber hat
gerade dieſer Apoll aus Orchomenos ſeines Aegypti-
ſirens wegen die reizvollſte Bedeutung: „les grands
plans et les grandes ombres!““ — Eine mehr lineare
Ausarbeitung würde nur dieſes Suſammenfaſſen für
ihn zerlegend verkleinern. Es iſt möglich, daß er auch
hier wieder ſtoffliches Intereſſe an der Gberfläche ge-