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Kunstchronik: Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe — 12.1877

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Guerrard, Charles: Der Salon von 1877, [5]
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https://doi.org/10.11588/diglit.5785#0421

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Der Salon von 1877.

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einen Hand hält sie eine Schriftrolle, nüt der anderen
befreit sie die reine, edle Stirne von den überhängendm
Falten ihres Gewandes, das sich eng an den reizenden,
jugendlichen Körper schuüegt, Schultern und Arme so-
wie einen Theil der Brust frei lassend. Diese Figur
athmet denselben vornehmen künstlerischen Geist, welcher
die vielbewunderte Jdealgestalt der Jugend aus dem
Grabmale Henri Regnault's erfüllt. Chapu hat das
große Berdienst, nicht nur ein ganz selbständiger, son-
dern auch ein spezifisch französischer Künstler zu scin;
obschon mit den großen Meistern der Renaissance und
auch mit der antiken Formensprache völlig vertraut, hat
er doch seinen eigenen Stil und eine besondere, nur ihm
eigenthümliche Ausdrucksweise. Die eben besprochene
Jdealfigur des Gedankens hat dem Künstler nicht bloß
die Auszeichnung des Vrix ä'iicmusur, sondern auch
die zwanzigtausenb Francs eingetragen, welche dic Aka-
demie alle zwei Jahre als Preis vertheilt.

Neben den besprochenen, ganz modern empfundenen
Werken nimmt sich die vou dem Direktor der Pariser
Kunstakademie, ClaudeGuillaume, eingesendeteGruppe
„Römische Eheschließung" fast kalt aus; allein die ruhige
Würde, die strenge und korrekte Zeichnung und die mit
Zartheit gepaarte Kraft eriunern an ähnliche Arbeiten der
Antike. Die jungen Gatten, in die vielfaltige Tunica ge-
hüllt, sitzen Hand in Hand aus einer Bank; der junge Mann
blickt stolz und selbstbewußt auf, während die junge Frau
gesenkten Anges und voll reizender Schamhaftigkeit das
Gewand gegen ihren Busen preßt. Von demselben Meister
rührt auch eine für die Kunstakadcmie bestimmte Statue
des Malers Jngres her, welche leider durch den ge-
schmacklosen architektonischen Rahmen, der ihr nach dem
vorliegenden Entwurfe zu Theil werden soll, becinträch-
tigt wird. Die Porträlstatue selbst ist höchst geschickt
und energisch modellirt; der in Frankreich noch immer
hoch angesehene Meister ist in halber Figur dargestellt
wie er auf ein Blatt Papier seinen berühmt gewordenen
Ausspruch niederschreibt: „1m ässsin et iu proditä äo
1'^rt".

Zu den geschmackvollsten Bildwerken zählt die Figur
der Musik von Delaplanche, einem seit 1864, wo er
den großen Preis davontrug, wohl gekannten Künstler,
der fast jedes Jahr eiuen bedeutcnden Erfolg crzielt.
Auch diesmal hat er ein klcines Meisterwerk an Eleganz
und Schönheit geliefert, an welchem der moderne Zug
angenehm berührt. Seine „Musik" ist eine fast nackte,
blos um die Hüften malerisch gewandete Frauenfigur,
welche aus schwellender Brust singt und ihren Gesang
mit einer ganz modernen Geige begleitet; Auffassung
und Technik lassen an Zartheit und Geschmack nichts
zu wünschcn übrig. Auch die „Meditation" von Tony
Noöl ist von modernen Geiste erfüllt. Die nackte
Frauengestalt lehnt mit dem Rücken gegen einen Felsen

und stützt ihr Haupt auf die ineinander geschlungenen
HLnde; der Ausdruck des Kopfes ist crhaben und von
einer tiefcn, anmuthsvollen Melancholie erfüllt; die
Körperformen, namentlich der Rücken und die Bcine
sind von geschmeidiger Zarthcil und feincr Empfindung.
Antiker ist die „Kassandra" von Aims Millet gedacht;
die Seherin, welche mit dem einen Arm den Altar der
Pallas Athene umfaßt und sich mit dem anderen auf
die Basis der Statue der Schutzgöttin stützt, ist von
strenger, energischer Haltung.

Einen großen Erfolg, freilich nur beim großen
Publikum, hat ein junger Neapolitaner, Bincenzo Ge-
mito, davongetragen. Wir widerstreben sicherlich dem
Naturalismus nicht, im Gegeutheil; allein alle Miß-
bildungen eines armseligen, schlecht cntwickelten Körpers,
alle Häßlichkeit einer von Wind und Wetter zerfressenen
Oberhaut, das ganze ekelhafte Gestrüpp eincs unge-
pflegten, üppigen Haarwuchses und den blöden Ausdruck
eines bodenlos verlotterten Kopfes für ein bares Kunst-
werk hinzunehmen, dazu können wir uns denn doch nicht
bequemen. Dieser scheußliche „Neapolitanische Fischer-
knabe", welcher auf den Knieen kauert, das heraus-
gezogene Netz vor den Bauch hält und den glücklich
gefischten Gründling an seine Brust drückt, flößt uns
vielmehr einen ganz gehörigen Ekcl ein, trotz der unleug-
baren Geschicklichkeit, mit der cr dargestellt ist. Das
große Talent des jungen Künstlers zcigt sich übrigcnS
auch an einem würdigeren Stoffe: der tüchtig behandel-
ten Büste Verdi's; dcmnach hoffen wir, daß derselbe sich
nicht durch den Bcifall eines gewissen, nicht sehr urtheils-
fähigen Theiles des Publikums hinreißen lassen werdc,
auf dem verhängnißvollen Wege der Extravaganz zu be-
harren, den er einmal mit Erfolg beschritten. Ein
anderer Debutant, Henri Peinte, hat für seinen „Sar-
pedon" den diesjährigen krix äu 8u1on erhalten. Der
junge Sohn Jupiter's spannt in ciner anmuthigen
Stellung seinen Bogcn; der Kopf ist, trotz dcr etwas
zu weibischen Frisur, schön und wohl angesetzt; dcr
Körper überaus elegant und dabei kräftig. Ueberhaupt
ist die ganze Figur in großem Stil gehalten und
von einer durchaus persönlichen Empfindung getragen;
Zeichnung und Modellirung sind so vornehm und tem-
peramentvoll, daß man für die Zukünft des jungen
Preisträgers zu dcn schönsten Hoffnungen bcrechtigt ist.
Besonderes Lob vervient auch der „Achilles" von Jules
Lafrance, obschon derselbe wegen dcs ihm anhaftenden
konventionellen Zuges nicht viel mehr bedeutet, als einen
akademischen Akt. Die Figur ist sitzend, an den Sessel
gelchnt, dargestellt; der rcchte Arm hängt frei herab,
der linke hält eine Lyra; dic Beine sind mit bemerkens-
werther Kraft und Eleganz modellirt. Auch der mitt-
lere Theil des Körpers besticht durch die Feinheit der
Konception nnd Ausführung.
 
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