Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstfreund — Band 1.1874

DOI issue:
Berichte von Nah und Fern
DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.56232#0125

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
119

Concertsaal herrscht dagegen die Lachnersche Tradition : vollendete, aber geistlose
Technik.
Wahrlich, es ist ein bedenkliches Interregnum, in dem sich das Münchener Musik-
leben zur Zeit befindet.
Die nächste Zukunft wird es zeigen, ob der, vor einigen Jahren so kräftig durch-
geführte Fortschritt über die stark um sich greifende Reaction des Kunstphilisters den
Sieg davontragen wird.
Erwähnen wir nun der Kgl. Vocalcapelle unter Wüllner’s Direction, so müssen wir
derselben das ungetheilteste Lob widerfahren lassen; denn hier findet man gediegene Auf-
fassung der wiederzugebenden Compositionen, unfehlbarste Reinheit der Intonation und
bewundernswerthe Technik, so dass man bei der grossen Mannichfaltigkeit der Programme,
die uns von der ältesten bis neuesten Musikliteratur Kunde geben, das Gefühl vollster
Befriedigung nach Hause trägt.
Ebenso sind die Quartettsoireen des Concertmeisters Walter rühmlichst hervorzu-
heben, da die ausübenden Künstler in jeder Beziehung den gerechten Anforderungen
genügen. — Der Oratorien-Verein unter Professor Rheinberger’s Leitung führt von Zeit
zu Zeit ein älteres Oratorium, doch nicht mit Orchester, sondern Clavierbegleitung auf,
macht den Eindruck einer Privat-Gesellschaft und übt nicht den mindesten Einfluss.
Schliesslich gedenken wir der Kgl. Musikschule, welche das, solchen Instituten
Möglichste leistet, d. h. tüchtige Instrumentalisten und Contrapunktisten heranbildet. Eine
Capellmeisterschule, das Nothwerrdigste, fehlt dort wie überall. Dass aber das besagte
Musik-Institut nicht einmal Vorträge über Geschichte der Musik seinen Kunstjüngern dar-
zubieten vermag, ist wohl ein grosser, erwähnenswerther Uebelstand.
Denn nur diese Geschichtskenntniss kann es vermögen, den Musikschüler vor ein-
seitigen, pedantischen Anschauungen zu bewahren, während er ohne dieselbe seinen ein-
gefuchsten Contrapunkt zum alleinseligmachenden Dogma erhebt, jedes ihm neu entgegen-
tretende Kunstwerk nach seinen sterilen Grundsätzen beurtheilt, und die, dem Genie
ureigenen Ideen als „dilettantisch“ verdammt. Die Musikschulen sind in ihrem jetzigen
Zustande die wahren Brutstätten der Pedanterie.
Zwei Vereine, der Wagner- und Tonkünstler-Verein, von denen letzterer sich seiner
Jugend wegen noch ziemlich hinter den Coulissen hält, sind das letzte Bemerkenswerthe
des dortigen Kunstlebens.
Unwillkürlich muss man einen Vergleich mit der alten Musikresidenz Leipzig
ziehen, die bei der Hälfte der Einwohnerzahl 20 Gewandhaus- und 10 Euterpe-Concerte
den oben angeführten 10 Sinfonie - Concerten gegenüber zu stellen hat. Dem Leipziger
Riedel’schen Verein ist aber dort nichts Ebenbürtiges zu nennen und wiederholen wir
nochmals, dass München keineswegs dem Rufe entspricht, mit dem es die Aussenwelt zu
beehren bemüht ist.
Glauben wir nun, den geehrten Lesern des Kunstfreundes zur Orientirung über das
dortige Musikleben ein wahrheitsgetreues Bild vorgeführt zu haben, so werden wir auf
Grund unserer Mittheilungen allmonatlich über die Tagesereignisse Bericht erstatten.

Leipzig, Ende Februar.
Der Monat Februar mit seinen Faschingsfreuden, welche eigentlich der Welt ihr
natürliches Gepräge verleihen, ist leider der kürzeste im Jahr — für uns auch in anderer
Beziehung eine Spanne Zeit, welche besonders, sobald wir auf das Gebiet des Schauspiels
gelangen, eine äusserst winzige Handhabe bietet.
Leipzig ist Musikstadl, jede Oper lockt ein zahlreiches Publikum in die geheiligten
Kunsträume, während dessen selbst die classischsten Schauspielvorstellungen bei schwach
besetztem Hause von Stapel laufen. Die Direction — insofern sie nicht ihr künstlerisches
Renommee wahren will — thut gewiss Recht daran, die Oper zu cultiviren und durch
Hintenansetzung des Schauspiels der Geschmacksrichtung des Publikums entgegen zu
kommen. Ist das Theater Vergnügungs- oder Bildungsstätte? Diese so oft ventilirte Frage
dürfte auch im „Kunstfreund“ einer kurzen Erörterung werth sein. Die meisten der auf
dem Repertoire befindlichen Opern mit ihren reichen Ausstattungen, Scenerien und Ballet-
einlagen ziehen ein Publikum in’s Theater, welches sich einige Stunden, wenn auch in
ästhetischer Weise unterhalten, so doch immer unterhalten will.
Anders verhält es sich natürlich bei denen, welche classische Schauspiele bei jeder
und jeder Wiederholung sich vor Augen führen lassen. Hier handelt es sich um Geistes-
anregung und Leuterung der Gedankenwelt inmitten des Widerstreites der verschiedenen
Anforderungen des Lebens. Für die Bekenner dieser Richtung gehen die Verhältnisse
des deutschen Theaters — darüber muss man sich klar sein — rückwärts. Die alten
Classiker müssen immer und immer wieder in die Reihen des Repertoires marschiren, von
den neuern Dichtern gelangen nur einige, deren Namen Klang erworben, zur Aufführung
und eine Anzahl vielleicht beachtenswerther Dichtungen, welche den allerwärts empfind-
10*
 
Annotationen