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Der Kunstfreund — Band 1.1874

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Der Kehlkopf Pauline Lucca´s und Herr Dr. Fieber
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https://doi.org/10.11588/diglit.56232#0386

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kräftig, und hinsichtlich ihres muskulösen Antheils von der Natur sehr reichlich be-
dacht“ sind. Auch liier waltet eine irrige Anschauung ob, die wir dahin berich-
tigen, dass wir den Stimmbändern keinen „muskulösen Antheil“ zuerkennen dürfen;
sie bestehen vielmehr nur aus Bindegewebs- und vorzüglich elastischen Elementen.
Der Muskel aber, nach Merkel Stimmbandmuskel, wirkt nur indirect auf das Stimm-
band, direct auf den Stellknorpel.
„Im Ruhezustände (d. i. bei ruhigem Athmen, während kein Ton angegeben
wird), sind sie (die Stimmbänder) von den sogenannten falschen Stimmbändern zum
Theile bedeckt; beim Anschlägen eines Tones zeigen sie sich in ihrer ganzen Breite
und Stärke.“ Das kann man mehr oder weniger an jedem lebenden Kehlkopfe im
Kehlkopfspiegel beobachten, da beim Athmen die Stimmbänder immer zurücktreten
und die geöffnete Stimmritze zeigen. Die über den Stimmbändern liegenden, von
denselben durch eine Höhle (Ventrikel) getrennten falschen Stimmbänder (Taschen-
bänder) verdecken alsdann den Anblick jener ersteren.
„Man kann durch die Stimmritze hindurch bis tief in die Luftröhre sehen.“ —
Diese Begünstigung gestatten uns sehr viele Stimmritzen sogar in dem Maasse, dass
wir das Innere der ganzen Luftröhre bis zu der Stelle sehen, wo sich dieselbe in
ihre beiden Lungenarme trennt.
So weit Herr Dr. Fieber. Eine Berichtigung, sowie eine nähere Beleuchtung
der von ihm veröffentlichten Wahrnehmungen schien uns nothwendig, um wenigstens
von unserem Standpunkte aus, im Interesse der Kunst, gegen eine weitere Ver-
folgung der ihm „gestatteten Beobachtungen“ zu protestiren, so weit sie irrige An-
schauungen verbreiten. Die Muskelthätigkeit, welche die elementare Bildung des
Tones, sein An- und Abschwellen, sowie die Scala erzeugt, vollzieht sich bei
erlangter Hebung unbewusst, wir würden sie als die mechanische zu betrachten
haben. Die Muskelthätigkeit, welche die charakteristischen Eigenschaften des
Klanges (Timbre), die Vocale, die Sprache des Gesanges erzeugt, vollzieht sich mit
individuellem Bewusstsein, wir können sie daher als die ästhetische bezeichnen.
Die mechanische Thätigkeit hat ihre Werkstätte in der Luftröhre (Windrohr) und im
Kehlkopf (Mundstück), die ästhetische in der Schlundhöhle, Mund- und Nasenhöhle
(Ansatzrohr). Die drei letztgenannten Höhlen repräsentiren die eigentliche Kunst-
werkstätte, in der die elementare Tonbildung für den Kunstgesang verwerthet wird.
Hier ist eine sorgfältige Schulung der Gaumenmusculatur und des Zungenmuskels
von grösster Bedeutung; durch die Thätigkeit derselben wird das Wort erzeugt,
das sich mit dem Ton vermischt, die Schallwellen werden verstärkt und der Ton zu
jenem Ausdruck geformt, der den ästhetischen Bedingungen entspricht. Merkel sagt:
„Der Gesang beruht auf einer, jedem normal organisirten Menschen mit seinem
Kehlkopf und dessen Ansatzrohre angeborenen und fast von selbst sich entfaltenden
Fähigkeit, die nur richtig gelenkt und geleitet zu werden braucht, um sich zu der
Kunst zu entwickeln, welche das unaussprechbare Leben des Gemüths dem Ohre
zur schönen Erscheinung bringt.“ Dieser Satz umfasst die ganze Aufgabe des Ge-
sangunterrichts, indem einfach darauf hingewiesen wird, die angeborene und sich
von selbst entfaltende Fähigkeit richtig zu lenken und zu leiten. Vollkommen nor-
mal organisirte Stimmwerkzeuge, deren Functionen auch nicht auf das kleinste
Hinderniss im Bau des gesammten Organencomplexes wie auf die Wiederspenstigkeit
irgend eines Muskels stossen, gehören zu den grössten Seltenheiten. An solchen
erweist sich die Thätigkeit eines Gesanglehrers als vollkommen überflüssig,
ihre glücklichen Besitzer dürfen nur nicht der ästhetischen Reife entbehren, wenn
ihre Leistungen künstlerische Geltung haben sollen.
Des Besitzes so glücklich organisirter Stimmwerkzeuge erfreuen sich Frau
Lucca, wie auch der Tenorist Wachtel, und seiner Zeit der sächsische
Kammersänger Tichatschek. Wenn der Gesang der beiden erstgenannten „Phä-
nomene“ höheren ästhetischen Anforderungen nicht genügt, so kann das nur aus
ihrem individuellen musikalischen Wissen oder Nichtwissen hervorgehen; ihre Be-
deutung in der Technik des Gesanges wollen wir nicht im Entferntesten wegleugnen,
aber die grossartigen Erfolge, welche sie aufzuweisen haben, sind auf Rechnung
ihrer vorzüglich organisirten Stimmwerkzeuge zu setzen.
Die Kunst des tüchtigen, erfahrenen Gesanglehrers kann also nur da. von
Nutzen sein, wo es sich darum handelt, Mängel zu beseitigen, die aus einem
 
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