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Die gestalteten Dinge sollen nicht stehen gegen den
Ziveck, gegen den Stoff, gegen dle Herstellungsart,
gegen den Schaffenden selbstl Das Stoffliche und
Konstruktlve mutz einem Höheren sich unterordnen,
dem inneren Ähythmus. Nennen wir das LebenS-
form des Schaffenden, Wirkungsform der Zeit. Der
reine Zweckgedanke musz sich vermählen mit dem see-
lischen Schwung, sonst kommen wir in ein Land
ohne Erbauung, ohne Anteilnahme des Gemüts. Der
richtig gebaute und harmonisch geltalteke Stuhl ladet
ein zum Sitzen, damit wir setzhaft werden bei irdi-
schen Dingen des Geniehens, aber auch seszhaft beim
Lesen, Erzählen und Sichselbstbesinnen. Es darf nicht
-nur ein gedachter Stuhl sein. Die Phantasie
sichert den Reichtum der Einfälle, hält sich aber fern,
von auszen das Ding mit Schmuck, mit Zier zu be-
hängsn. Ein neuer Stil entsteht. Diese Richtung
kommt in dem Streben nach dem Typischen, dem
allgemein Gültlgen zum Ausdruck. Es gilt, das Spie-
lerische zu überwinden, die Lust an der Zier, die lm
Kinde, im einfachen Mann, beim Naturvolk lebendig
ist. Dieses meist im naiven Gefühl ruhende Gefal-
len an verzierten Bingen geht gegen die kühle, klare,
lypische Form, die ihre Schönheit von innen her ent-
wickelt, die keinen von autzen angeflogenen, sondern
vom inneren Baugedanken yerausgewachsenen
Schmuck kennt.
Äicht die interessante Einzelleistung, die persön-
liche Formung des eigenwilligen und eigenkönnenden
Künstlers kennzeichnet den Gang des modernen
Werkbundschaffens, sondern die Ueberwindung des
IKidividuellen, die Schaffung eines Zeitstiles, der die
wesentlichen lebendigen Züge der Zeit selbst in sich
tragen soll. Diese Geüanken suchen die Theoretiker
und theoretisierenden Praktiker im Werkbund klar
herauszuarbeiten, z. B. Dr. Walther Niezler in
jeiner Werkbundschrift: „Die Kulturarbeit des deuk-
schen Werkbundes"; Richard Rienierschmid in seinen
„Künstlerischen Erziehungsfragen": Dr. Günther
Freiherr von Pechmann in dem Handbuch „Die
Qualikätsarbeit', Dr. Pfleiderer endlich in ieinem
Buch „Form ohne Ornamsnt". Als Typenbuch aber
gilt das vom Deutschen und Oesterreichischen Werk-
bund mitten im Krieg herausgegebene „Deuksche Wa-
renbuch", zu dem Ävenarius das Borwort schrieb
und Dr. tzoseph Popp den Text kurz und program-
makisch verfatzte.
Das Streben deS deutschen Werkbnndes, die zeik-
reife Arbeit der Akademien für Kunstgewerbe, die
Bemühungen der Reichskunstwarts um alte lebens-
fähige Handwerkstechniken haben gute Frucht ge-
zeitigt. Dieser Nichtung auf das Praktische und Tech-
nilche, klare Formgestaltende verdanken wir „eine
Avkehr von wilden Forinexperimenken". Auf der
Leipziger Messe ist auf der ganzen Linie die Be-
ruhiguilg des dekorativen Elements bei deutfchen
Erzeugirissen zu beachten. Die handwerkliche Edel-
arbeit seht sich durch. Anders ist der Gesamteindruck
bei den Wiener Werkstätten,.-Lem Oesterreichischen
Werkbund. Die Presse schreibk darllber: „Wie mit
einem Zauberschlage wird man aus der Melt des
Nühlichen, Soliden verseht in die Welt des schim-
mernden Ueberflusses, des scharmanten, lockenden
Luxus. Der oft geschilderte Reichtum an Erfindung,
an spielerischen, graziösen Einfällen, an neuen Wlr-
kungen, die jedem Stoffe abgeichmeichelt werden,
wirkt immer wieder überwältigeno."
Der Gegensah des formenstrengen deulschen Werii-
bundes und des farb- und schmuckfreudigen üsierreichi
schen Werkbundes, fern vom KonstruktivisinuS cines
Bauhauses, ist auffallend und zeigt das Doppeigesichi
im kunstgewerblicyen Schaffen unserec Zeit. —
Für uns steht das Buch von Dr. Pfleiderer: „Form
ohne Ornament", im VordLrgrund, da es uninillel-
bar das Gestalten in dec Schule mitberührt. Dr.
Pfleiderer fragt: „Was ist Form? Form isl das, wao
keine Berzierung hat." Diese naive Formel will aber
mehr sagen. Es will sagen: Form ist das, was keine
Berzierung braucht. ünsofern lst der Nuf nach „Form
ohne Ornament" kein apparter Gedanke, sondern
eine innere Notwendigkeit. Form ohne BerzierunP
mujz aus dem Wesen der Zeit verstanden wer-
den. Zwei Typen find nach Dr. Pfleiderer vorherr-
schend: die technische Form, die primitive Forni.
Die technische Form ist eine Formung der Ma-
schine, der Formwille des konskruierenden hngeiiienrs
und des schaffenden Hanüiverkers. 2n der tcchiiischen
Form mujz die einheitliche Haltung der Nation zuni
Ausdruck kominen. Einfach, klar, wahr, zweckenl-
sprechend. Dann kann verzichtet werden auf den
Schmuck als peripherische Zutat an den Dingen. DaS
handwerkliche Schaffen, Zweck und Stoss begrenzen
den Willen des Schaffenden, dänimen die Phantasie
ein, binden tzdee und Freiheit des Fühlens im Ein-
zelmenschen an das Ding, an dns Geseh. Aus dleser
Spannung von Kraft und Stoff enltteht dns Werk,
entsteht die technische Form als Äusdruck unserer
Zeit.
Neben der technischen Form erkennl Pfleiderer
als Ausdruck der Zeit die primitive Form an: da-
mit gibt er zu, dajz der Ausdruck unserer Zeik zivie-
spältig ist, dah also von einem einheitlichen Zeitwil-
len nichtLesprochen werden kann. Auch bei der pri-
mitiven Form können wir zwei Richlungen unker-
scheiden: Die primitive Form, wie sie von den Na-
turvölkern als Ausdruck ihreS hnnenlebens und tech-
nlscher Eigenarbeit entstanden ist, wie sie als unbe-
holfenes Stammeln bei Kindern den Anfang der
Enrwicklung darstellt, und wie sie in der primitiven
und überlieferten BolkSkunst der Kulkurvölker eine
selbständige Kunstäuszeruiig darstellt.
Wir köniien aber auch eine primitive Form in der
Gegenwart unkerscheiden, die kulkurell hochstehende
Zeitgenosken erstreben als Befreiung von der äuszer-
lichen Ueberkultur. Es ist eine Sehnsucht nach „neuer
Naturverbundenheit". Man schauk nach dem Osken,
nach Asien, nach Südamerika. Man fähct zur Süd-
see und will inmitten der europäifchen Kulkur die
Äeger- und Südsee-Primitivität verbreilen. Alle Zu-
sammenhänge des Kulturgeschehens werden verneink.
Statk nach Einheit, nach Ueberwindung übler Kul-
turlast zu streben, preilt man die Linsnchheit ferner
Lande und ferner Bölker. Die Mascyine soll durch
das Schnitzmesser erseht werden.
Man versteht diesen elementaren Schrei „nach den
verschükteten Quellen", den schon ein Rousseau mit
Geist verband, nach Eigenleben gegen die tötende
Maschinenarbeit, nach Freundschast Gleichstrebender
gegen dte Unduldsamkeit der Masse, aber es wird
diefes Skreben eine Episode bleiben und nicht als
Kulturbewegung angesprochen werden köiinen, denn
eine solche Primitivikät isk fremdarkig, unorganisch
und kann nur eineiir kleinen Kreis eigenwilliger Na-
tursucher etwas bedeuten.
Die gestalteten Dinge sollen nicht stehen gegen den
Ziveck, gegen den Stoff, gegen dle Herstellungsart,
gegen den Schaffenden selbstl Das Stoffliche und
Konstruktlve mutz einem Höheren sich unterordnen,
dem inneren Ähythmus. Nennen wir das LebenS-
form des Schaffenden, Wirkungsform der Zeit. Der
reine Zweckgedanke musz sich vermählen mit dem see-
lischen Schwung, sonst kommen wir in ein Land
ohne Erbauung, ohne Anteilnahme des Gemüts. Der
richtig gebaute und harmonisch geltalteke Stuhl ladet
ein zum Sitzen, damit wir setzhaft werden bei irdi-
schen Dingen des Geniehens, aber auch seszhaft beim
Lesen, Erzählen und Sichselbstbesinnen. Es darf nicht
-nur ein gedachter Stuhl sein. Die Phantasie
sichert den Reichtum der Einfälle, hält sich aber fern,
von auszen das Ding mit Schmuck, mit Zier zu be-
hängsn. Ein neuer Stil entsteht. Diese Richtung
kommt in dem Streben nach dem Typischen, dem
allgemein Gültlgen zum Ausdruck. Es gilt, das Spie-
lerische zu überwinden, die Lust an der Zier, die lm
Kinde, im einfachen Mann, beim Naturvolk lebendig
ist. Dieses meist im naiven Gefühl ruhende Gefal-
len an verzierten Bingen geht gegen die kühle, klare,
lypische Form, die ihre Schönheit von innen her ent-
wickelt, die keinen von autzen angeflogenen, sondern
vom inneren Baugedanken yerausgewachsenen
Schmuck kennt.
Äicht die interessante Einzelleistung, die persön-
liche Formung des eigenwilligen und eigenkönnenden
Künstlers kennzeichnet den Gang des modernen
Werkbundschaffens, sondern die Ueberwindung des
IKidividuellen, die Schaffung eines Zeitstiles, der die
wesentlichen lebendigen Züge der Zeit selbst in sich
tragen soll. Diese Geüanken suchen die Theoretiker
und theoretisierenden Praktiker im Werkbund klar
herauszuarbeiten, z. B. Dr. Walther Niezler in
jeiner Werkbundschrift: „Die Kulturarbeit des deuk-
schen Werkbundes"; Richard Rienierschmid in seinen
„Künstlerischen Erziehungsfragen": Dr. Günther
Freiherr von Pechmann in dem Handbuch „Die
Qualikätsarbeit', Dr. Pfleiderer endlich in ieinem
Buch „Form ohne Ornamsnt". Als Typenbuch aber
gilt das vom Deutschen und Oesterreichischen Werk-
bund mitten im Krieg herausgegebene „Deuksche Wa-
renbuch", zu dem Ävenarius das Borwort schrieb
und Dr. tzoseph Popp den Text kurz und program-
makisch verfatzte.
Das Streben deS deutschen Werkbnndes, die zeik-
reife Arbeit der Akademien für Kunstgewerbe, die
Bemühungen der Reichskunstwarts um alte lebens-
fähige Handwerkstechniken haben gute Frucht ge-
zeitigt. Dieser Nichtung auf das Praktische und Tech-
nilche, klare Formgestaltende verdanken wir „eine
Avkehr von wilden Forinexperimenken". Auf der
Leipziger Messe ist auf der ganzen Linie die Be-
ruhiguilg des dekorativen Elements bei deutfchen
Erzeugirissen zu beachten. Die handwerkliche Edel-
arbeit seht sich durch. Anders ist der Gesamteindruck
bei den Wiener Werkstätten,.-Lem Oesterreichischen
Werkbund. Die Presse schreibk darllber: „Wie mit
einem Zauberschlage wird man aus der Melt des
Nühlichen, Soliden verseht in die Welt des schim-
mernden Ueberflusses, des scharmanten, lockenden
Luxus. Der oft geschilderte Reichtum an Erfindung,
an spielerischen, graziösen Einfällen, an neuen Wlr-
kungen, die jedem Stoffe abgeichmeichelt werden,
wirkt immer wieder überwältigeno."
Der Gegensah des formenstrengen deulschen Werii-
bundes und des farb- und schmuckfreudigen üsierreichi
schen Werkbundes, fern vom KonstruktivisinuS cines
Bauhauses, ist auffallend und zeigt das Doppeigesichi
im kunstgewerblicyen Schaffen unserec Zeit. —
Für uns steht das Buch von Dr. Pfleiderer: „Form
ohne Ornament", im VordLrgrund, da es uninillel-
bar das Gestalten in dec Schule mitberührt. Dr.
Pfleiderer fragt: „Was ist Form? Form isl das, wao
keine Berzierung hat." Diese naive Formel will aber
mehr sagen. Es will sagen: Form ist das, was keine
Berzierung braucht. ünsofern lst der Nuf nach „Form
ohne Ornament" kein apparter Gedanke, sondern
eine innere Notwendigkeit. Form ohne BerzierunP
mujz aus dem Wesen der Zeit verstanden wer-
den. Zwei Typen find nach Dr. Pfleiderer vorherr-
schend: die technische Form, die primitive Forni.
Die technische Form ist eine Formung der Ma-
schine, der Formwille des konskruierenden hngeiiienrs
und des schaffenden Hanüiverkers. 2n der tcchiiischen
Form mujz die einheitliche Haltung der Nation zuni
Ausdruck kominen. Einfach, klar, wahr, zweckenl-
sprechend. Dann kann verzichtet werden auf den
Schmuck als peripherische Zutat an den Dingen. DaS
handwerkliche Schaffen, Zweck und Stoss begrenzen
den Willen des Schaffenden, dänimen die Phantasie
ein, binden tzdee und Freiheit des Fühlens im Ein-
zelmenschen an das Ding, an dns Geseh. Aus dleser
Spannung von Kraft und Stoff enltteht dns Werk,
entsteht die technische Form als Äusdruck unserer
Zeit.
Neben der technischen Form erkennl Pfleiderer
als Ausdruck der Zeit die primitive Form an: da-
mit gibt er zu, dajz der Ausdruck unserer Zeik zivie-
spältig ist, dah also von einem einheitlichen Zeitwil-
len nichtLesprochen werden kann. Auch bei der pri-
mitiven Form können wir zwei Richlungen unker-
scheiden: Die primitive Form, wie sie von den Na-
turvölkern als Ausdruck ihreS hnnenlebens und tech-
nlscher Eigenarbeit entstanden ist, wie sie als unbe-
holfenes Stammeln bei Kindern den Anfang der
Enrwicklung darstellt, und wie sie in der primitiven
und überlieferten BolkSkunst der Kulkurvölker eine
selbständige Kunstäuszeruiig darstellt.
Wir köniien aber auch eine primitive Form in der
Gegenwart unkerscheiden, die kulkurell hochstehende
Zeitgenosken erstreben als Befreiung von der äuszer-
lichen Ueberkultur. Es ist eine Sehnsucht nach „neuer
Naturverbundenheit". Man schauk nach dem Osken,
nach Asien, nach Südamerika. Man fähct zur Süd-
see und will inmitten der europäifchen Kulkur die
Äeger- und Südsee-Primitivität verbreilen. Alle Zu-
sammenhänge des Kulturgeschehens werden verneink.
Statk nach Einheit, nach Ueberwindung übler Kul-
turlast zu streben, preilt man die Linsnchheit ferner
Lande und ferner Bölker. Die Mascyine soll durch
das Schnitzmesser erseht werden.
Man versteht diesen elementaren Schrei „nach den
verschükteten Quellen", den schon ein Rousseau mit
Geist verband, nach Eigenleben gegen die tötende
Maschinenarbeit, nach Freundschast Gleichstrebender
gegen dte Unduldsamkeit der Masse, aber es wird
diefes Skreben eine Episode bleiben und nicht als
Kulturbewegung angesprochen werden köiinen, denn
eine solche Primitivikät isk fremdarkig, unorganisch
und kann nur eineiir kleinen Kreis eigenwilliger Na-
tursucher etwas bedeuten.