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Das Rubensfest zu Antwerpen.
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Kinder, die jede Vortreppe eincs Hauscs hinauf und
hinab laufen müssen.
Die Menschenmenge bcnimmt sich trcfflich. Alles
ist in Fest- und Feiertagsanzug und Stimmung. Aller-
dings ist kein tieferer Enthusiasmus bemerkbar, aber
man will Fest feiern und sich würdig benehmen. Es
wimmelt ja von Fremden, von Sängerschaaren mit ihren
verschiedencn Abzeichen, also Antwerpens Honneurs gc-
macht und gewahrt durch Anstand und zuvorkommendes
Wesen. Nichts vvn SchnapSspektakel, keinc Brutalität
ist uns vorgekommen; keine drängende, stoßcnde, johlende,
pfeifende Pöbelrotte, dic plötzlich durch die Menge daher-
tobl. Nur das leidige Spucken, das in Antwerpen
Sitte ist, ward, wenn man eingekcilt in drangsalsvoller
Enge stehcn mußte, trotz der darin bewieseuen Geschick-
lichkeit, unangenehm genug
Die Cantate zählte zu den Hauptmcrkwürdigkeiten
dcs Festes. 1200 Musiker und Sänger waren ver-
sammelt, das von Herrn Inlius de Geyter gedichtete,
von Herrn Pierre Benoit komponirte und jetzt dirigirte
Wcrk vorzutragen. Es war ein hcißer schöner Tag ge-
wesen. Die IInov vsrts funkelte in Licht; vor Rubens'
Monnmcnt war dic Sängerestrade. Auf 30—100,000
Menschcn wird die dort versammelte Mcnge geschätzt. Der
Himmcl war bedeckt; in immer tieferes Dnnkel hüllte sich
die gcwaltige Kathedrale; hoch oben anf deni in den Nacht-
himuiel ragenden Thurni blinkten mystisch einige Lichter.
Ein Haupteffekt der Cantate bestand darin, daß
Herr Benoit in Adoptirung der Wagner'schen Trompeten-
Hervlde dort oben 8 Trvmpeter postirt hatte, welche mit
dem Carillon (oem dsiunrä oder Glockenspicl) an den
bctreffenden Stellen die Melodie aufnehmen und wie
,,vom Hinimel hoch, da konim ich her" die Tvne über
Stadt und Land und Strom hinaussenden in die Nacht.
Durch cincn vom Dirigentenpult auf dcn Thurmkranz
sührenden Draht gab dcr Dirigent elektrisch deni Trom-
peterchor seine Weisung.
Als nun 8H2 Uhr Herr Benoit auf seinem Diri-
gentenplatz erscheint, legt sich das Gesummse der Massen;
noch eine Pause, dann giebt der Taktstock das Zeichen
nnd das Ricsenkoncert beginnt.
Herr Pierre Benoit ist ja in musikalischen Kreisen
wohl bekannt. Zu cinem giltigcn Urtheil über diesc
ncueste Komposition müßte man sie unter besseren akusti-
schen Uniständen hören. Denn je nach dem Stand der
verschiedenen Chöre hörte man besser oder schldchter, ja
recht schlecht. Von einem Monstre-Koncert, davon, daß
1000 Sänger ihre Stimmcn erhoben, war nichts auf
dem gewaltigen Platz, und wohl auch bei dem Festge-
summse der ganzen, großcn Stadt, zu verspürcn. Musik
und Chöre zusamwen wurden nie elementar-wuchtig gc-
nug. Hundert Mann im geschlossenen Raume bringen
eine stärkere Wirkung hervor.
Wir waren übrigens im Anfang trefflich für das
Musikwerk gestimmt und wurden davon ergriffen. Eine
Melodie kam, welche uns an die Wcise des „Wilhelmus
von Nassauen" erinnerte: die Gegenwart versank, die
Geister der vergangenen Zeiten erschienen; tausend Er-
innerungen wurden wach an das, was dieser Dom er-
schaut hatte und was sich an den Mann knüpfte, der dort
in Erz steht: die Zciten, wo die Königin der Schelde
alle Handelsstädte Europas überstrahlte, die Tage der
ncuen Seelen-Erhebung, des Kampfes, der Noth, der
Verzweiflung, der Nieverlage, des Grausens vor wüthen-
der Soldateska, Henkern nnd Pfaffenrache, die Tage,
wo die stolzen Häupter vvr ihre Füße gelegt wurden
unv die andern sich unter das Joch beugten, bis aus
der Verbannung ein Stern aufging, Peter Paul Rubens,
Flanderns rnhmreichster Svhn, der noch einmal seines
Vaterlandes heitere, wohlige Kraft und Größe ver-
kündete . . .
Die Trompeten und das Glockenspiel ans der Höhe
thaten ihren Dienst.
Unsere feierliche, schwärmerische Stimmung konntc
freilich nicht durchhalten. Es kamen Rhythmen und
Melodicn, die uns unerklärlich schienen und uns somit
unruhig und kritisch machten. Die Uebelstände der Akustik
kamen auch immer mchr zur Geltung. Es wurde un-
möglich, Allem in gleicher Weise zu folgen. So ging
der einheitliche Charakter verloren und oer musikälifche
Gennß und die Kritjk blieben auf das Einzelne beschränkt.
Am nächsten Tage'ward uns der Grund unseres
ersten Stutzcns klar, als wir Herrn de Geyter's Text
lasen. Der erste Theil dieser Cantate, welche nicht
Rubens, sondern „Vlanderns Kunstruhm" verherrlicht,
ist sonderbar genug behandelt.
Die niederländischen Schwesterstädte singen den
Preis Antwerpens, der liebsten Schwester, der Mutter
von Rubens — hier fallen die Trompeten ein — (die
Citate stnd möglichst wörtlich):
Sag uns, 0 Schwester, du schaust aus der Höhe
Fern in den Raum über Länder und Meer,
Kamen auch Fremde zur Schelde gezogen,
Brachten auch Fremde dir Lorbeern her?
Antwerpen antwortet: Jch seh sie kommen aus jedem
Land. „Oüosur truits sons kormo äo bnrourollo,
iwitnnt ls bs.lLNL8Mont äos navirss st ä'nn sllst
rnvissnnt" sagt ein belgischcr Kritiker. Nun kommcn
Europa, Asien, Afrika, Australicn und Amerikä. Die
Musik malt nach Herrn Gustave Lagye „s.vso nn rnrs
bonlisnr st lss olinmps vsrmsils än Niäi st lss pios
nsiAsnx, lss bronillaräs spuis än Lsptsntrion ....
Dss voix ä'sntants, s'slsvnnt M)'8ti>xnö8 cLrnotsri-
ssnt l'^sis ,rvnur äs ssrsts Nsnsolr is opAötrsäsnst"
Ohne Text hatten wir das natürlich nicht begreifen
können. Bei ven Kinderstimmen hatten wir an An-
Das Rubensfest zu Antwerpen.
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Kinder, die jede Vortreppe eincs Hauscs hinauf und
hinab laufen müssen.
Die Menschenmenge bcnimmt sich trcfflich. Alles
ist in Fest- und Feiertagsanzug und Stimmung. Aller-
dings ist kein tieferer Enthusiasmus bemerkbar, aber
man will Fest feiern und sich würdig benehmen. Es
wimmelt ja von Fremden, von Sängerschaaren mit ihren
verschiedencn Abzeichen, also Antwerpens Honneurs gc-
macht und gewahrt durch Anstand und zuvorkommendes
Wesen. Nichts vvn SchnapSspektakel, keinc Brutalität
ist uns vorgekommen; keine drängende, stoßcnde, johlende,
pfeifende Pöbelrotte, dic plötzlich durch die Menge daher-
tobl. Nur das leidige Spucken, das in Antwerpen
Sitte ist, ward, wenn man eingekcilt in drangsalsvoller
Enge stehcn mußte, trotz der darin bewieseuen Geschick-
lichkeit, unangenehm genug
Die Cantate zählte zu den Hauptmcrkwürdigkeiten
dcs Festes. 1200 Musiker und Sänger waren ver-
sammelt, das von Herrn Inlius de Geyter gedichtete,
von Herrn Pierre Benoit komponirte und jetzt dirigirte
Wcrk vorzutragen. Es war ein hcißer schöner Tag ge-
wesen. Die IInov vsrts funkelte in Licht; vor Rubens'
Monnmcnt war dic Sängerestrade. Auf 30—100,000
Menschcn wird die dort versammelte Mcnge geschätzt. Der
Himmcl war bedeckt; in immer tieferes Dnnkel hüllte sich
die gcwaltige Kathedrale; hoch oben anf deni in den Nacht-
himuiel ragenden Thurni blinkten mystisch einige Lichter.
Ein Haupteffekt der Cantate bestand darin, daß
Herr Benoit in Adoptirung der Wagner'schen Trompeten-
Hervlde dort oben 8 Trvmpeter postirt hatte, welche mit
dem Carillon (oem dsiunrä oder Glockenspicl) an den
bctreffenden Stellen die Melodie aufnehmen und wie
,,vom Hinimel hoch, da konim ich her" die Tvne über
Stadt und Land und Strom hinaussenden in die Nacht.
Durch cincn vom Dirigentenpult auf dcn Thurmkranz
sührenden Draht gab dcr Dirigent elektrisch deni Trom-
peterchor seine Weisung.
Als nun 8H2 Uhr Herr Benoit auf seinem Diri-
gentenplatz erscheint, legt sich das Gesummse der Massen;
noch eine Pause, dann giebt der Taktstock das Zeichen
nnd das Ricsenkoncert beginnt.
Herr Pierre Benoit ist ja in musikalischen Kreisen
wohl bekannt. Zu cinem giltigcn Urtheil über diesc
ncueste Komposition müßte man sie unter besseren akusti-
schen Uniständen hören. Denn je nach dem Stand der
verschiedenen Chöre hörte man besser oder schldchter, ja
recht schlecht. Von einem Monstre-Koncert, davon, daß
1000 Sänger ihre Stimmcn erhoben, war nichts auf
dem gewaltigen Platz, und wohl auch bei dem Festge-
summse der ganzen, großcn Stadt, zu verspürcn. Musik
und Chöre zusamwen wurden nie elementar-wuchtig gc-
nug. Hundert Mann im geschlossenen Raume bringen
eine stärkere Wirkung hervor.
Wir waren übrigens im Anfang trefflich für das
Musikwerk gestimmt und wurden davon ergriffen. Eine
Melodie kam, welche uns an die Wcise des „Wilhelmus
von Nassauen" erinnerte: die Gegenwart versank, die
Geister der vergangenen Zeiten erschienen; tausend Er-
innerungen wurden wach an das, was dieser Dom er-
schaut hatte und was sich an den Mann knüpfte, der dort
in Erz steht: die Zciten, wo die Königin der Schelde
alle Handelsstädte Europas überstrahlte, die Tage der
ncuen Seelen-Erhebung, des Kampfes, der Noth, der
Verzweiflung, der Nieverlage, des Grausens vor wüthen-
der Soldateska, Henkern nnd Pfaffenrache, die Tage,
wo die stolzen Häupter vvr ihre Füße gelegt wurden
unv die andern sich unter das Joch beugten, bis aus
der Verbannung ein Stern aufging, Peter Paul Rubens,
Flanderns rnhmreichster Svhn, der noch einmal seines
Vaterlandes heitere, wohlige Kraft und Größe ver-
kündete . . .
Die Trompeten und das Glockenspiel ans der Höhe
thaten ihren Dienst.
Unsere feierliche, schwärmerische Stimmung konntc
freilich nicht durchhalten. Es kamen Rhythmen und
Melodicn, die uns unerklärlich schienen und uns somit
unruhig und kritisch machten. Die Uebelstände der Akustik
kamen auch immer mchr zur Geltung. Es wurde un-
möglich, Allem in gleicher Weise zu folgen. So ging
der einheitliche Charakter verloren und oer musikälifche
Gennß und die Kritjk blieben auf das Einzelne beschränkt.
Am nächsten Tage'ward uns der Grund unseres
ersten Stutzcns klar, als wir Herrn de Geyter's Text
lasen. Der erste Theil dieser Cantate, welche nicht
Rubens, sondern „Vlanderns Kunstruhm" verherrlicht,
ist sonderbar genug behandelt.
Die niederländischen Schwesterstädte singen den
Preis Antwerpens, der liebsten Schwester, der Mutter
von Rubens — hier fallen die Trompeten ein — (die
Citate stnd möglichst wörtlich):
Sag uns, 0 Schwester, du schaust aus der Höhe
Fern in den Raum über Länder und Meer,
Kamen auch Fremde zur Schelde gezogen,
Brachten auch Fremde dir Lorbeern her?
Antwerpen antwortet: Jch seh sie kommen aus jedem
Land. „Oüosur truits sons kormo äo bnrourollo,
iwitnnt ls bs.lLNL8Mont äos navirss st ä'nn sllst
rnvissnnt" sagt ein belgischcr Kritiker. Nun kommcn
Europa, Asien, Afrika, Australicn und Amerikä. Die
Musik malt nach Herrn Gustave Lagye „s.vso nn rnrs
bonlisnr st lss olinmps vsrmsils än Niäi st lss pios
nsiAsnx, lss bronillaräs spuis än Lsptsntrion ....
Dss voix ä'sntants, s'slsvnnt M)'8ti>xnö8 cLrnotsri-
ssnt l'^sis ,rvnur äs ssrsts Nsnsolr is opAötrsäsnst"
Ohne Text hatten wir das natürlich nicht begreifen
können. Bei ven Kinderstimmen hatten wir an An-