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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Holitscher, Arthur: Das Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0047

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\S GERICHT. Arthur Holitscher.
Zuweilen war’s nur ein Flüstern, kaum ein Flüstern. Als
sprädre er von etwas Sühern, flössen ihm die Worte weich und
unhörbar über die Lippen. Dann schmähte er, seine Augen
verdrehten sich und seine Wangen wurden um einen Schein fahler; er bog
den Kopf zurück, schien zu sinken. Die gedrängte, schwere, atemlose Menge
starrte mit Aug’ und Ohr hinauf zu ihm — er merkte nichts von allem, wie
in einer stillen, verschwiegenen Kammer, mit Laster und Verzückung in seiner
Mönchsklause allein, so stand er da, bewustlos auf der Kanzel über den Köpfen.
Aber ehr sich die Menge versah, schrillte seine Stimme wieder auf. Zuckend,
prasselnd, donnernd rissen sich die Worte nieder zu ihren Ohren, Schreie wie
Wettergebell, Worte in keuchendem Sturz wie besessene Meute, Pfeile zischten,
das Gebälk von oben stürzte ein, die Türme wankten, es war, als bräche die
Kathedrale, der grolle festgefügte Dom auseinander, die Fäuste, schlagend
hinauf, hinauf, sprengten, zerschmetterten das Gewölbe, und als sie nieder-
fuhren aufs Pult der Kanzel, folgten ihrem Sturz die Glocken aus den Stühlen,
die schwere Last aus tausend Tonnen Erz trommelte nieder aus taumeliger
Höhe mit Gedröhn und Krachen auf die unbewehrten, in Sehweih gebadeten
Schädel der Gemeinde — nur Augen, Augen und Ohren lebten weiter, während
Chaos und Verderben aus den Winkeln des breiten Mundes bradr, zwei
schwertähnliche Strahlen, fast körperlich sichtbar, mit speicheldurchsprihtem
Grinsen, in dem sich Rachen und Schlund verzerrten, heraussfachen — „die
Hölle! die Hölle \u
über den Köpfen der Menge, die gepfercht, erstarrt, ohne Besinnung,
aneinandergebacken das Schiff, die Emporen, die Gänge bis in die Kapellen
und Vorhallen füllte, schrie er, schlug mit den Fäusten, zeterte er, bis der
Atem ihn verlieh, un<^ er innehalten muhte. Und dann schlugen sich die Wände
den Widerhall seiner Stimme wie feindliches Gut zu, hin und her, zu und ab,
als wolle keine sein letztes Wort behalten. So tönte es, nicht vom Orte, wo
er stand, nein, aus dem Raum der marmorbedeckten Pilaster, der goldenen
Säulen, der starrenden Orgelpfeifen, der flirrenden Mosaiken hin und wider —
„die Hölle! die Hölle!“
Seine Tonsur leuchtete grau, sein Haarkranz wie flammendes Pech. Die
Schatten in seinem tollen Gesicht flohen in tiefes Schwarz zurück. Sein ent-
zahnfer Mund kaute Gier. Aus den Augen, die so tief lagen, dah keiner
sie unter dem grünlichen Glanz wahrnehmen konnte, der von seiner Stirn
ausging, quoll ein gesättigtes Gelüst, teuflische Sdradenfreude, wie erfüllte
Verheihung einer schweren, restlosen Labsal nach endloser Pein die Bestätigung
hervor: „Die Hölle! Die Hölle!u


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