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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Wolfradt, Willi: Ferdinand Hodler "Der Tag"
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0661

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FERDINAND HODI.ER
DER TAG
WILLI WOLFRADT
Schwestern miteinander, — doch nicht die gleiche Stunde trägt ihnen Erfül-
lung, Die eine ist Vollendung; sie herrscht über der Dämmernden Chor,
hebt sich heraus, zu umfassen, zu gebieten. Ihre Grobe geht auf wie ein
Gestirn, berufen und bereit. Ein Strom fährt in dem jünglinggleichen Weibe em-
por, dessen Fleisch stählern ist und herrisch, das sich spannt in jungem Er-
wachtsein.
Und doch ist es, als ob der neue Glanz die Sonne selber blendete: ohne Jubel
ist das Glück der Erfüllung, wie eine Krone legt sich über den Sieg die Verant-
wortung. Auch ihr, die sich vollendete, bleibt noch abzustreifen; noch ist um sie
das Verklingen rätselvoller Träume, Demut wendet das Haupt ihr zur Seite und
verhüllt die Augen, ein Suchen irrt noch in den Armen, von den Händen ergeben
zurückgehalten. Wach strömt die helle Front des Rumpfes, straff und bewußt
kündet sich der Leib, durchbricht leiste, fein wallende Schaffen, genial sprühen
die Haare: sie ist der Tag, der Sieg, die Wahrheit.
Noch keimen um sie her die Schwestern, von Schwere umfangen, in frommer
Verwirrung, gequält von Ahnung, die erst auftaucht wie aus dunklen Fluten, dann
aber mächtig in die Glieder springt, in ihnen taumelt, sehnsüchtig und erschrocken.
Aus warmen Kindern mit schmiegsam-brokafenem Haar und schlafender Haut,
auf geschreckt aus weichem Holdsein, macht sie Vernichtete, die dem wehren, was
brünstig sie begehren, deren Nerven wild fasten, deren Glieder durstig sich dehnen
und doch zucken vor dem kalten, kühnen Atem des Morgens. Die Ahnung über-
wältigt die Träumenden; es ist, als ob sie sich selbst gebären. Scham und Angst
vor dem, was in ihnen aufbricht, und vor der hell und gekrönt wartenden Schwester
biegt ihre Körper. Aber sie wachsen dem klaren Tage entgegen, neigen sich ihm,
strömen in ihn ein, ringen das Unbewußte nieder von ihrem AntliE
Den Prozeß einer Metamorphose erleben wir im Bilde als Nebeneinander.
Leicht mochte der Entwicklungsgedanke, der ihm zugrunde liegt, das Bild in ein
serienhaffes Gebilde auffeilen; dodi durch die Kraft des Rhythmus, die Raum-
und Zeifkünsfen gemeinsam ist, wuchs es dem Künstler zu restloser Einheit, die
gerade das Evolufionsmomenf des Bildthemas ins unvergleichlich Sichtbare
rückt.
Frühe Phasen verehren die Erfüllung, welche, mitten unter sie gestellt, sie mit

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