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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Peterson, Otto P.: Das mystische Element in den Dramen Tolstois und Gorkis
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DAS MYSTISCHE ELEMENT IN DEN DRAMEN
TOLSTOIS UND GORKIS.

0. P ? t e r § o n, Berlin.

EINER äußeren Perm nadi steht
das neuere Drama in Rußland
zwischen Naturalismus und Realis-
mus. Das Unterscheidungsmerkmal
zwischen dem Drama der Russen und dem der
anderen Völker ist im wesentlichen folgendes:
das Drama in Deutschland (Hauptmann), in
Norwegen (Björnson-Ibsen), in Schweden (Strind-
berg) usw., verlegt die Handlung zum größten
Teil in das Innere der handelnden Personen,
deren Seelenleben, entsprechend den naturwissen-
schaftlidien Dogmen des Naturalismus mit Vor-
liebe vom Gesichtspunkt der „Vererbung“ und
des „Milieus“ abgeleitet wird. Anders im
russischen Drama.
Da die naturwissenschaftlidien Probleme bei
dem urwüchsigen russischen Volke keine Rolle
spielen, so ist hier eine Zentralgestalt die Trä-
gerin der Weltanschauung tiefgläubigen, mystisch
gefärbten Christentums. Auf die Entwicklung
des Dramas in Rußland, wie auch auf das
europäische Drama im allgemeinen, übte die
Bauerntragödie Tolstois »Die Macht der
Finsternis« (1887) einen starken Einfluß aus.
Selbst Gerhart Hauptmann, der i. J. 1884 mit
der klassizistischen Tragödie »Der J od des
Tiberius« seine literarische Tätigkeit begann,
sdirieb unter dem Einfluß Tolstois, zwei Jahre
nadi dessen »Macht der Finsternis«, sein erstes
modernes naturalistisches Bauerndrama »Vor
Sonnenaufgang« (1889).
Unter dem Einfluh Tolstois entstand Gorkis
»Nachtasyl«, eine Schilderung selbsterlebten,
tiefsten sozialen Elends. Das Drama erschien
i. J. 1896 auf der russischen Bühne. Wenn
Gorki mit seinen »Barfüßlern« zum ersten Male
in der Literatur einen Typus aufstellt, dem er
zeitweilig angehört, so muß hier der Einfluß
Hermann Sudermanns festgesfellt werden, der
mit seiner, auch in Rußland begeistert aufge-
nommenen »Ehre« (1889) zuerst das Verhältnis

von Vorderhaus und Hinterhaus im modernen
Leben schildert. Im »Nachtasyl« ist gleichfalls
das Verhältnis zwischen der unteren und oberen
Gesellsdiaftssdiidit wiedergegeben, nur mit dem
Untersdiied, daß die unterste Gesellsdiaftssdiidit,
den russischen Hausverhältnissen entsprechend,
nicht im Hinterhause, sondern im Keller des-
selben Hauses wohnt, in dessen oberen Stock-
werken die obere Gesellschaft, — ein Bild räum-
lidien und sozialen Gegensatzes, — sidi be-
findet. Da Gorki in seiner Jugend nur not-
dürftig lesen und schreiben lernte und sidi erst
später ausbilden konnte, kann in seinem Drama
von fester dramatischer Form keine Rede sein.
Die Gliederung nach Szenen fehlt sogar. Er
ist ein ursprünglidies Genie, das die Natur und
die Mensdien mit der Kraft shakespearischer
Sprache und Ausdrucksweise beherrsdit. Darum
ist der Didifer Pjeschkow, — so lautet sein
wirklicher Name, — in der ersten Periode seines
Schaffens, als er vom russisdien Dichter Anton
Eschechow (1860—1904) entdeckt wurde, von
größter Wirkung. Die spätere Kultur und
Bildung hat vieles von seiner genialen Ur-
sprünglichkeit geraubt.
Die Bolsdiewisten in Rußland haben das
Lumpenproletariat Gorkis, nadi dem Grundsah :
„Proletarier aller Länder, vereinigt eudi!“, zur
herrschenden Klasse gcmadit. Die eigenartige
Geschichte und Stellung dieses russischen Prole-
tariats soll in einem kurzen geschiditiidien Riick-
und Überblick charakterisiert werden.
Rußland ist ein Agrarstaat.*) Die Agrar-
bevölkerung bildet fast 90 Prozent der Gesamt-
bevölkerung. Das Bodeneigentum ist Gemeinde-
eigentum. Der Bauer ist nur Nußnießer dieses
Bodens. Diese Einriditung, — „Mir“ genannt,
— war früher ein Idealzustancl, da der Familien-

*) Wer sidi über die Agrarverhältnisse Rußlands orientieren will, findet
in Adolf Damaschke’s vortrefflichem Werk: »Die Bodenreform« näheres
gesagt, (Jena, Verlag von Gustav Fisdier 1918.)


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