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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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November- Dezember-Heft
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Elwenspoek, Curt: Theogenie der Künste
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0241

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klärt sich zum ruhigen, leuchtenden Kristall; es ist
verstanden, ist überwunden, es wird besessen, wird
beherrsdit. Und an die Stelle des ursprünglicKen
Grauens tritt die heitere Sidierheit des Herrn
— die wärmende, beseligende Ruhe, die jedem
echten Kunstwerk entströmt.
Die Hand, weldie zuerst den Feuersteinsplitter
in die Höhlenwand grub, um die Umrisse eines
Urs festzuhalten, ward regiert von einem Hirn,
in dessen Bewußtseinstiefen etwa folgende
Gedankenreihe gewadisen sein mochte: ich sehe
den Auerochsen grasen, laufen, sich gatten,
zusammenbrechen. Idi sehe Einzelnes, Zufälliges.
Wie ist der Auerochse? Kann idi sein Wesen
ergründen? Sieht er nicht so aus? Ist so nidit
sein Kopf — so seine Beine — sein Auge —
so sein Sdiwanz? Dann ruft er die Seinen. Was
ist das? Ein Auerochse! Das ist ein Auerochse!
Du hast einen Auerochsen auf dieWand gezaubert!
Und er spürt als Erster Schöpferglück: das Glück
des befreiten Befreiers. Er beherrscht den Auer-
odisen, er versteht ihn, er kann ihn madien, wie
der Dichter sein Erlebnis in Worten neu machen
kann, er ist Herr geworden — wie der Diditer.
— Herren auch über ihresgleichen, denn sie können
sie erlösen vom Grauen. Alle anderen konnten
immer nur sagen, jener Auerochse senkte so den
Kopf, bradi so zusammen oder: so warf der
Feind damals den Stein, so flog mein Speer. Sie
beide aber können mit ihrem Liede, ihrem Bilde
aus drücken, das Wesentliche herauspressen:
das ist ein Held! Das ist ein Auerochse. Sie
konnten sogar sagen: das ist der Held, das
ist der Auerochse! Ein Künstler schuf den
bestimmten Artikel, den Begriff.
Und die anderen: Wir fühlen, wir ahnen wie
du. Aber du erst hast uns den eigentlichen
Begriff (d. i. die Möglidikeit, Fernes, Gestalt-
loses mit Händen zu be-greifen, zu erkennen,
unser eigen zu nennen), gegeben, du hast uns
befreit, du hast das erlösende Wort
gesprodien, die erlösende Tat getan! Das
da ist der Ausdruck, das Wesentlidie, das Ewige,

Bleibende dieses Mensdien, dieses T ieres, dieser
Begebenheit, jenes Seelenzustandes! All das ist
uns jeßt nicht mehr feindlich, fremd und grauenvoll,
wir verstehen, beherrschen, wir sind mit erlöst!
Alle Kunst gräbt immer — auf weldien Wegen
oder Umwegen es au di geschehe — nach dem
Zaubersdilüssel der Erlösung, nadi der Befreiung
vom Grauen vor Fremdem, Unfaßlidiem, Unüber-
sehbarem. Auch sie sudif immer auf ihre Art,
d. h. formend, nadi dem Wesen der Dinge.
Nidit Nadiahmung ist die Wurzel der Künste,
die da sagt: so etwa sieht jenes zufällig irgend-
wo vorhandene x aus, sondern Ordnungswille,
Erkenntniswille, Herrscherwille, der da zeigt:
schaut her! das ist der Ausdruck, die Ver-dichfung,
das Wesen jenes x! Was idi machen kann, ist
unverlierbar mein. Was idi so erfaßt, begriffen
habe, daß ich es ausdrücken, den Saft, die Seele
herauspressen kann, darüber bin ich Herr —
an diesem Punkte bin ich Sieger im Kampf
mit der Umwelt! Erlöser vom Grauen! Nidit
nur meiner selbst, sondern aller, die mir folgen
können und wollen!
* *
*
Je reidier die Kunst sich entfaltet, um so tiefer
führt sie hinein ins Herz der Dinge, des Menschen,
der Welt. Das Wesen der Welt, den Rhythmus
des anscheinend ganz unrhythmischen Welt-
geschehens aufzuspüren und darzustellen ist letzter
Gipfel der Kunst wie alles geistigen Lebens.
An diesem Punkt berührt sie sidi, einen Kreis
bedeutsam schließend mit der Religion. Alle Kunst
der Vollendung löst jenes kosmische Gefühl, jenes
gefühlsmäßige, ahnende Begreifen des Welt-
zusammenhanges aus, durch das in unserem
Bewußtsein die Kluft zwischen ordnendem
Mensdiengeist und diaotischem Weltgesdiehen
sidi schließt. Hier und nur hier blüht die völlige
Erlösung vom Grauen, darin des Chaos um-
schmilzt zum Kosmos, der miteinsdiheßt, in Liebe
an seines Herzens Herz zieht den Fremdling:
Mens di.

Dr. Gurt Etwenspoek.
 
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