Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0424
DOI Heft:
Februar-Heft
DOI Artikel:Weissmann, Adolf: Konzert-Dämmerung
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KONZERT-DÄMMERUNG
Adolf We i h m a n n
Wir stehen in einer Krise aller Dinge. Aber es dauert lange, bis der Mensdi in seinem
Tiefsten von der allgemeinen Bewegung ergriffen wird. Den wenigen Tafmensdien folgen
die Herdenmensdren nur äuherlidr, ohne sidr zu wandeln. Gebt ihnen eine Parole, einen neuen
Gößen, und sie werden selig sein.
Unwandelbare Herdenmensdren aber sind die Musikfreunde, die den Konzertsaal bevölkern.
Seit Jahrzehnten lassen sie sidi nadr dem Willen höherer Mädrte gängeln. Und so gesdrieht es, dah
die Forderungen der Zeit nirgends weniger anklingen als im Konzertpublikum. Musikübung hat
das Eigentümlidre, dah sie die Widerstände des Hirns und des Willens gegen Verkalkungen
sdrwädrt. Das alleinseligmadrende Gefühl findet seine Stühe in den Frauen, deren Suggestions-
kraft entscheidet. Man versudre nur, ihnen die Tradition zu nehmen: sie berufen sidr auf das
verbriefte Recht des bequemsten, rein gefühlsmäßigen Musikgenusses. Und in der Wahrung dieses
Redrfs können sie zu Tafmensdren werden. Was wäre wohl gegen die Gefühlspolitik wütend
klatsdrender Hände zu unternehmen! Das Wort eines stark und lange beglaubigten Kritikers
kann kaum leicht ersdrüttern, wo Genießerinstinkte im Spiel sind. Wird er der kritisdren Dacapos
nidrt müde, dann kann er Spaltungen lrervorrufen; indem er das Neue fördert, sdrafft er Mädrte
gegen die Bequenrlidrkeit, und kritisdre neuerungssiidrtige junge Geister werden ihm folgen. Aber
das Trägheifsgeseh im Konzertsaal ist stärker als alle Gegenströmungen.
Und doch: es dämmert. Die Krise aller Dinge wird audr das Konzertleben ergreifen.
„Konzertdämmerungu will also nicht bolschewistisdre Zerstörungswut, sondern den Willen zur
Umformung verkünden.
0
Man wird natürlich annehmen, dah der wirtsdraftlidre Zusammenbruch die Konzertkrise hervor-
gerufen hat. Nidrt mit Unredrt, soweit wirtsdraftlidre Dinge den Gang des Musiklebens bestimmen.
Nur wird es Mensdren geben, die eine Konzertkrise überhaupt leugnen; eben jene Unzahl von
Musikfreunden, in denen ein unklares Gefühl die Widerstände des Willens und des Hirns gegen
Verkalkungen gesdrwädrt hat. Ob auch die Unternehmer in diesen Chor der Widcrsadrer von
Herzen nriteinstimmen, wäre zu bezweifeln.
Tafsadre ist, dah die Kriegsjahre einen sogenannten Höhepunkt des Konzertbetriebes gebradrt
haben. Kurze Zeit fühlte sich der Mensch durch das Ungeheuerlidre entwurzelt und mied die
Musik. Der Kampf um die Konzertsäle wurde, faute de conrbattants, weniger heftig. Man
spradr davon, dah nun c'n Teil der Ausübenden, die schon im Frieden eine brotlose Kunst
betrieben, in andere Berufe abwandern würde. Man hatte sidr getäusdrt. Die Entvölkerung
Deutsdrlands von ausübenden Künstlern trat nidrt ein. Das Kriegshandwerk zog sie im allgemeinen
nidrt so ab, wie man es gefürchtet hatte. Und die Zurückbleibenden sahen sidi bald einer ganz
neuen Lage gegenüber. Urplößlidr sdrnellte die Nachfrage in die Höhe. Der Musikmarkt konnte
nidrt genug besdrickt werden. Der Mensdr hatte sidr an das drronisclre Übel des Krieges wie
an alles Chronische gewöhnt und braudrte die Musik aus allerlei Gründen.
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Adolf We i h m a n n
Wir stehen in einer Krise aller Dinge. Aber es dauert lange, bis der Mensdi in seinem
Tiefsten von der allgemeinen Bewegung ergriffen wird. Den wenigen Tafmensdien folgen
die Herdenmensdren nur äuherlidr, ohne sidr zu wandeln. Gebt ihnen eine Parole, einen neuen
Gößen, und sie werden selig sein.
Unwandelbare Herdenmensdren aber sind die Musikfreunde, die den Konzertsaal bevölkern.
Seit Jahrzehnten lassen sie sidi nadr dem Willen höherer Mädrte gängeln. Und so gesdrieht es, dah
die Forderungen der Zeit nirgends weniger anklingen als im Konzertpublikum. Musikübung hat
das Eigentümlidre, dah sie die Widerstände des Hirns und des Willens gegen Verkalkungen
sdrwädrt. Das alleinseligmadrende Gefühl findet seine Stühe in den Frauen, deren Suggestions-
kraft entscheidet. Man versudre nur, ihnen die Tradition zu nehmen: sie berufen sidr auf das
verbriefte Recht des bequemsten, rein gefühlsmäßigen Musikgenusses. Und in der Wahrung dieses
Redrfs können sie zu Tafmensdren werden. Was wäre wohl gegen die Gefühlspolitik wütend
klatsdrender Hände zu unternehmen! Das Wort eines stark und lange beglaubigten Kritikers
kann kaum leicht ersdrüttern, wo Genießerinstinkte im Spiel sind. Wird er der kritisdren Dacapos
nidrt müde, dann kann er Spaltungen lrervorrufen; indem er das Neue fördert, sdrafft er Mädrte
gegen die Bequenrlidrkeit, und kritisdre neuerungssiidrtige junge Geister werden ihm folgen. Aber
das Trägheifsgeseh im Konzertsaal ist stärker als alle Gegenströmungen.
Und doch: es dämmert. Die Krise aller Dinge wird audr das Konzertleben ergreifen.
„Konzertdämmerungu will also nicht bolschewistisdre Zerstörungswut, sondern den Willen zur
Umformung verkünden.
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Man wird natürlich annehmen, dah der wirtsdraftlidre Zusammenbruch die Konzertkrise hervor-
gerufen hat. Nidrt mit Unredrt, soweit wirtsdraftlidre Dinge den Gang des Musiklebens bestimmen.
Nur wird es Mensdren geben, die eine Konzertkrise überhaupt leugnen; eben jene Unzahl von
Musikfreunden, in denen ein unklares Gefühl die Widerstände des Willens und des Hirns gegen
Verkalkungen gesdrwädrt hat. Ob auch die Unternehmer in diesen Chor der Widcrsadrer von
Herzen nriteinstimmen, wäre zu bezweifeln.
Tafsadre ist, dah die Kriegsjahre einen sogenannten Höhepunkt des Konzertbetriebes gebradrt
haben. Kurze Zeit fühlte sich der Mensch durch das Ungeheuerlidre entwurzelt und mied die
Musik. Der Kampf um die Konzertsäle wurde, faute de conrbattants, weniger heftig. Man
spradr davon, dah nun c'n Teil der Ausübenden, die schon im Frieden eine brotlose Kunst
betrieben, in andere Berufe abwandern würde. Man hatte sidr getäusdrt. Die Entvölkerung
Deutsdrlands von ausübenden Künstlern trat nidrt ein. Das Kriegshandwerk zog sie im allgemeinen
nidrt so ab, wie man es gefürchtet hatte. Und die Zurückbleibenden sahen sidi bald einer ganz
neuen Lage gegenüber. Urplößlidr sdrnellte die Nachfrage in die Höhe. Der Musikmarkt konnte
nidrt genug besdrickt werden. Der Mensdr hatte sidr an das drronisclre Übel des Krieges wie
an alles Chronische gewöhnt und braudrte die Musik aus allerlei Gründen.
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