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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Hilberseimer, Ludwig: Vom Niedergang der Künste
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VOM NIEDERGANG DER KÜNSTE

LUDWIG H1LBERSEIMER
L
Den höchsten künstlerischen Ausdruck fand Europa in der dem religiösen
Bewußtsein des Mittelalters entspringenden Baukunst, Wobei unter Bau-
kunst die Synthese von Architektur, Plastik und Malerei zu verstehen ist.
Diese höchste Einheit verkörpert die Gotik in der Kathedrale: eine kristallisierte
Idee von konsequenter Folgertchtigkeif. Alles irgendwie Dekorative unmöglich
machend. Vehemente Entladung seelischer Spannungen. Grandioses phantastisches
Sichauftürmen. Innigstes religiöses Gefühl vergöttlicht, entmaterialisiert dieMaterie.
Laßt alle Schwere vergessen.
Durch den blendenden Eindruck und die bewußte Ausbreitung der Renaissance
wurde vor allem in den romanischen Ländern die Kunst des Mittelalters verdunkelt.
Sie kam aber auch dort als Baukunst zu ihrer höchsten Entfaltung. Freilich durch
die Tradition der Antike horizontal gebändigt. Bei Santa Maria de! Fiore des
Domes von Florenz, wo schon die weiten Pfeilerabstände des Langhauses auf eine
gewisse horizontale Betonung hinweisen. Oder bei Notre Dame in Paris, wo die
horizontale Gliederung soweit geht, daß an der Westfront der hochgeführte Giebel
des Mittelschiffs durch eine offene Galerie verdeckt wird. Auch darf die sich in
spißenhafter Grazilität auflösende Reimser Kathedrale hier nicht unerwähnt bleiben.
Hemmungsloser manifestiert sich die Gotik in den germanischen Ländern. Hier
findet ihre Verfikalität den radikalsten Ausdruck, So beim durchbrochenen Pyra-
midenturm des Freiburger Münsters. Dem steilaufragenden, überschlank sich
hochschwingenden Turm der Aniwerpener Kathedrale, den mächtig sich empor-
reckenden Türmen der Gudulakirche in Brüssel, deren fabelhafte Situierung auf
einer Anhöhe sie noch mächtiger erscheinen läßt, und den hohen Türmen einen
unvergleichlichen Auftakt gibt. (Der Gegensaß französischer und germanischer
Gotik wird hier im Vergleich mit Notre Dame in Paris, mit der die Gudulakirche
nur die Turmstümpfe gemeinsam hat, überaus klar.) Nicht unerwähnt soll auch
St. Romuald in Mecheln bleiben, dessen Turm der Inbegriff einer ins unübersehbar
Maßlose der Verhältnisse gesteigerten Gotik ist.
Das sind Höhepunkte europäischen Kunstschaffens. Hervorgegangen aus der
Einheit des Wolfens und Tuns, Verbunden durch das zugrundeliegende verbindende

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