MUSIKALISCHE EVOLUTION.
Dr. G u i d o B a g i e r.
Rhythmus der Gesdiiehte treibt unbewußt aus innerer Kraft göttlichen Ur-
sprungs seinen Schlag, oft überhört, versteckt vor der Wichtigkeit des Augen-
blicks. Er ist übermächtig, er spottet der dünkelhaften Uebersicht des Mensdien,
treibt diesen, wo er zu stehen und hemmen gedenkt, wirft Ergebnisse der Kunst
empor, die, kaum gefühlt, am wenigsten gedacht, sich trohig gegen Ueberlieferung
und Sitte aufbäumen, um sogleich wieder im Schatten zu versinken, kindlich demütig der Macht
sidi anzusdimiegen, der eben noch sie Herr Ls dr die Stirne boten. Es ziemt dem Künstler nidrt,
sidr allzu bewuft der l hese seines Sdraffens zu bedienen; das abgegriffene Instrument des In-
tellekts allein bringt Unglück, Unfrieden und Nörgelei. Er selbst sdrreitet naiv und unbewußt
den Weg der inneren Pflidrt. Nur seinen Freunden sei es verstattet, der Richtung seines Sdrrittes
nachzuspüren, Gelände zu beschreiben, das er fand, die Wege seines Fufes ehrfürchtig zu
ergründen.
Wir haben der Betrachtungen viele, die sich mit den Kurven, den Wellen, Hügeln und
I älern letzter musikalischer Entwicklung befassen. Sie zeigen sdrarfen Geist oft, oft warmes
Fühlen. Eines Charakters sind sie alle: Hier wird die Oper in engen Rahmen gespannt, dort
die Sinfonie; der alte Streit der absoluten und Programm-Musik, gewif längst beigelegt, wallt in
letzten Zuckungen auf. Die Technik der Musik, verführerisdi in ihren weit verzweigten Gängen,
ist Richtschnur und Gesetz Das, was einer bedeute, wird von der Geschmeidigkeit des Salzes,
vom Selbstverständlichen des kontrapunktischen Gewebes, von der Beweglidrkeit und Eleganz der
Modulation abgelesen: so instrumentiert Richard Strauß, so schreibt Max Reger eine Fuge,
so harmonisiert im linearen Sinne der Pfifner Palestrinas, so steigert Bruckner seine Themen,
so löst ein Schönberg Form in Farbe auf. Eine genau arbeitende Fabrik, in der ein jeder an
bestimmte Apparate sltjt, bestimmte Arbeit in dem und jenem Formate leistend. Nach Feier-
abend wird der blaue Kittel ausgezogen, der Mensch beginnt zu leben, sich auszuruhen von der
verflossenen Mühe. Ist es so? IsTs wirklidi so? Durdidringt die Kunst den Mensdien nicht
wie Flauch der Atmosphäre unsere Lungen? Ist sie nicht Teil von uns, oder nur ein Ange-
worfenes von einer groben Maurerkelle sogenannter künstlerisdier Tugend? Wir weisen diese
Art des Urteils schroff zurück; nidit Richter, — Freunde möchten wir dem Künstler sein, damit
er seine Seele nidit verschliefe, sondern sic ausgiebe in göttlicher, mystischer Verzückung.
Die Zeit ist söldier warmer Betraditung günstig. Die Umwertung der Werte begann, be-
gann bei der dinghaftesten aller Offenbarungen der Menschenseele: der bildenden Kunst. Weiter
ergriff sie behende die Bezirke der Dichtkunst, um von hier aus, des Wortes Gewalt sich bedienend,
auf die Gefilde der Politik unheilschwanger zu stürzen. Fort wälzte der Block vom feinen Organ
des Herzens; den Triumph über die Materie erhoben sie, die revolutionierten, zum Feldgeschrei,
um materiegeknechteter zu werden wie je. Alles dreht sidi verzückt im rasenden Taumel, mit-
gerissen von der tollrotierenden Blendsdieibe politischer Verzückung. Bildende Künstler dienten
Fanatikern zu riihmlidiem Vorspann, ganze Gruppen wurden von zeitlidier Krankheit zerseht;
Dichter stellten Geseke der Menschheitsbeglückung auf, stemmten sidi unbewehrt in idealem Drange
dem Alten und darum Verächtlichen entgegen, — ja, phantastisdie Greise boten gleidi I oren
die hageren Leiber, zerglüht von seltsamer Begeisterung, der strengen Kugel, dem Strafgerichte
der Volksgenossen dar.
Nur die Musik stand abseits! Ihr zartes Melos schien nicht gesdiatfen für die fest zu-
packende rohe Eigenart des Umsturzes. In ihrem heiligen Bau glühte das heuer scheinbar zeit-
loser, unberührter. Ihre Hüter mieden den Kampf der heftigen Gebärde. Nicht einem Richard
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Dr. G u i d o B a g i e r.
Rhythmus der Gesdiiehte treibt unbewußt aus innerer Kraft göttlichen Ur-
sprungs seinen Schlag, oft überhört, versteckt vor der Wichtigkeit des Augen-
blicks. Er ist übermächtig, er spottet der dünkelhaften Uebersicht des Mensdien,
treibt diesen, wo er zu stehen und hemmen gedenkt, wirft Ergebnisse der Kunst
empor, die, kaum gefühlt, am wenigsten gedacht, sich trohig gegen Ueberlieferung
und Sitte aufbäumen, um sogleich wieder im Schatten zu versinken, kindlich demütig der Macht
sidi anzusdimiegen, der eben noch sie Herr Ls dr die Stirne boten. Es ziemt dem Künstler nidrt,
sidr allzu bewuft der l hese seines Sdraffens zu bedienen; das abgegriffene Instrument des In-
tellekts allein bringt Unglück, Unfrieden und Nörgelei. Er selbst sdrreitet naiv und unbewußt
den Weg der inneren Pflidrt. Nur seinen Freunden sei es verstattet, der Richtung seines Sdrrittes
nachzuspüren, Gelände zu beschreiben, das er fand, die Wege seines Fufes ehrfürchtig zu
ergründen.
Wir haben der Betrachtungen viele, die sich mit den Kurven, den Wellen, Hügeln und
I älern letzter musikalischer Entwicklung befassen. Sie zeigen sdrarfen Geist oft, oft warmes
Fühlen. Eines Charakters sind sie alle: Hier wird die Oper in engen Rahmen gespannt, dort
die Sinfonie; der alte Streit der absoluten und Programm-Musik, gewif längst beigelegt, wallt in
letzten Zuckungen auf. Die Technik der Musik, verführerisdi in ihren weit verzweigten Gängen,
ist Richtschnur und Gesetz Das, was einer bedeute, wird von der Geschmeidigkeit des Salzes,
vom Selbstverständlichen des kontrapunktischen Gewebes, von der Beweglidrkeit und Eleganz der
Modulation abgelesen: so instrumentiert Richard Strauß, so schreibt Max Reger eine Fuge,
so harmonisiert im linearen Sinne der Pfifner Palestrinas, so steigert Bruckner seine Themen,
so löst ein Schönberg Form in Farbe auf. Eine genau arbeitende Fabrik, in der ein jeder an
bestimmte Apparate sltjt, bestimmte Arbeit in dem und jenem Formate leistend. Nach Feier-
abend wird der blaue Kittel ausgezogen, der Mensch beginnt zu leben, sich auszuruhen von der
verflossenen Mühe. Ist es so? IsTs wirklidi so? Durdidringt die Kunst den Mensdien nicht
wie Flauch der Atmosphäre unsere Lungen? Ist sie nicht Teil von uns, oder nur ein Ange-
worfenes von einer groben Maurerkelle sogenannter künstlerisdier Tugend? Wir weisen diese
Art des Urteils schroff zurück; nidit Richter, — Freunde möchten wir dem Künstler sein, damit
er seine Seele nidit verschliefe, sondern sic ausgiebe in göttlicher, mystischer Verzückung.
Die Zeit ist söldier warmer Betraditung günstig. Die Umwertung der Werte begann, be-
gann bei der dinghaftesten aller Offenbarungen der Menschenseele: der bildenden Kunst. Weiter
ergriff sie behende die Bezirke der Dichtkunst, um von hier aus, des Wortes Gewalt sich bedienend,
auf die Gefilde der Politik unheilschwanger zu stürzen. Fort wälzte der Block vom feinen Organ
des Herzens; den Triumph über die Materie erhoben sie, die revolutionierten, zum Feldgeschrei,
um materiegeknechteter zu werden wie je. Alles dreht sidi verzückt im rasenden Taumel, mit-
gerissen von der tollrotierenden Blendsdieibe politischer Verzückung. Bildende Künstler dienten
Fanatikern zu riihmlidiem Vorspann, ganze Gruppen wurden von zeitlidier Krankheit zerseht;
Dichter stellten Geseke der Menschheitsbeglückung auf, stemmten sidi unbewehrt in idealem Drange
dem Alten und darum Verächtlichen entgegen, — ja, phantastisdie Greise boten gleidi I oren
die hageren Leiber, zerglüht von seltsamer Begeisterung, der strengen Kugel, dem Strafgerichte
der Volksgenossen dar.
Nur die Musik stand abseits! Ihr zartes Melos schien nicht gesdiatfen für die fest zu-
packende rohe Eigenart des Umsturzes. In ihrem heiligen Bau glühte das heuer scheinbar zeit-
loser, unberührter. Ihre Hüter mieden den Kampf der heftigen Gebärde. Nicht einem Richard
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