Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0779
DOI Heft:
Juni-Heft
DOI Artikel:Fleischmann, H. R.: Expressionistische Musik in Österreich
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EXPRESSIONISTISCHE MUSIK
IN ÖSTERREICH
DR. JUR. PHIL. MUS. H. R. FLEISCHMANN, WIEN
Die Noten mit Genehmigung der Universal-Edition A. G., Wien I
Mit einem Vorbehalt sei nachfolgende Darstellung expressionistischer
Musik bezüglich ihres Umfanges zunächst eingeleitet. Denn, wenn
l dieselbe auf den Boden Österreichs hypotheziert wird, so ist damit
nicht unser gegenwärtiges, örtlich eng umschriebenes und um Wien als zentrales
Lebensorgan gruppiertes „Deutschösterreich“ gemeint, sondern vielmehr jenes
mächtige, so vielen Völkerschaften staatliche Gemeinschaft darbietende Donau-
reich, das ehedem bestanden hat, ehe es durch den Hammer des unbarmherzigen
Zeitwillens in Stücke heterogenster Art. zertrümmert worden ist. Die politische
Umgestaltung, welche daraus erfolgt ist, vermochte jedoch nicht, die kulturellen
Bande, welche all diese Nationen durch so viele Jahrhunderte geeint und zu
dem auch weiterhin zweifelsohne im alten Sinne berechtigten Begriffe „öster-
reichisch“ zusammengehalten hat, zu lösen, und gerade auf dem Gebiete des
Expressionismus der neuen Bewegung, in der Musik, finden wir bei aller, durch
den Charakter der nationalen Verschiedenheit, gegebenen Divergenz eine Über-
einstimmung in der grundsätzlichen Auffassung, die sympathisch berührt und den
fortschrittlichen Musiker mit großen Zukunftshoffnungen erfüllt.
Fast gleichzeitig ist der expressionistische Stil in dem — heute fast ausschließlich
durch Wien noch repräsentierten — Deutschösterreich, in der Tschechoslowakei,
in Ungarn und Polen triebhaft instinktiv in die Höhe geschossen, doch nirgends
hat er solche, sich über das ganze kulturelle Ausland fortpflanzende Wellen
stärkster Erschütterung jeglicher musikalischer Tradition erzeugt wie gerade von
Wien aus. Und merkwürdig! Wir Wiener haben uns mit der neuen Richtung
bereits abgefunden und befreundet; und während draußen etwa das Problem
Schönberg noch in seinen ersten Stadien erörtert wird, empfangen wir, die wir
in Wien unmittelbar aus der Quelle sdiöpfen können, bereits die leßten Aus-
strahlungen einer Kunst, die in den soeben erschienenen »Herzgewächsen«* op. 20,
für hohen Sopran, Celesta, Klavier und Harmonium, von Arnold Sdiönberg, den
vorläufig nicht mehr steigerungsfähigen, triumphalen Ausdruck einer bis in die
äußersten Konsequenzen bewußt durchgeführten Stilrichfung gefunden hat.
* Universal - Edition,
Wien-Leipzig, woselbst
das gesamte Schaffen
Arnold Sdiönbergs ver-
legt ist.
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IN ÖSTERREICH
DR. JUR. PHIL. MUS. H. R. FLEISCHMANN, WIEN
Die Noten mit Genehmigung der Universal-Edition A. G., Wien I
Mit einem Vorbehalt sei nachfolgende Darstellung expressionistischer
Musik bezüglich ihres Umfanges zunächst eingeleitet. Denn, wenn
l dieselbe auf den Boden Österreichs hypotheziert wird, so ist damit
nicht unser gegenwärtiges, örtlich eng umschriebenes und um Wien als zentrales
Lebensorgan gruppiertes „Deutschösterreich“ gemeint, sondern vielmehr jenes
mächtige, so vielen Völkerschaften staatliche Gemeinschaft darbietende Donau-
reich, das ehedem bestanden hat, ehe es durch den Hammer des unbarmherzigen
Zeitwillens in Stücke heterogenster Art. zertrümmert worden ist. Die politische
Umgestaltung, welche daraus erfolgt ist, vermochte jedoch nicht, die kulturellen
Bande, welche all diese Nationen durch so viele Jahrhunderte geeint und zu
dem auch weiterhin zweifelsohne im alten Sinne berechtigten Begriffe „öster-
reichisch“ zusammengehalten hat, zu lösen, und gerade auf dem Gebiete des
Expressionismus der neuen Bewegung, in der Musik, finden wir bei aller, durch
den Charakter der nationalen Verschiedenheit, gegebenen Divergenz eine Über-
einstimmung in der grundsätzlichen Auffassung, die sympathisch berührt und den
fortschrittlichen Musiker mit großen Zukunftshoffnungen erfüllt.
Fast gleichzeitig ist der expressionistische Stil in dem — heute fast ausschließlich
durch Wien noch repräsentierten — Deutschösterreich, in der Tschechoslowakei,
in Ungarn und Polen triebhaft instinktiv in die Höhe geschossen, doch nirgends
hat er solche, sich über das ganze kulturelle Ausland fortpflanzende Wellen
stärkster Erschütterung jeglicher musikalischer Tradition erzeugt wie gerade von
Wien aus. Und merkwürdig! Wir Wiener haben uns mit der neuen Richtung
bereits abgefunden und befreundet; und während draußen etwa das Problem
Schönberg noch in seinen ersten Stadien erörtert wird, empfangen wir, die wir
in Wien unmittelbar aus der Quelle sdiöpfen können, bereits die leßten Aus-
strahlungen einer Kunst, die in den soeben erschienenen »Herzgewächsen«* op. 20,
für hohen Sopran, Celesta, Klavier und Harmonium, von Arnold Sdiönberg, den
vorläufig nicht mehr steigerungsfähigen, triumphalen Ausdruck einer bis in die
äußersten Konsequenzen bewußt durchgeführten Stilrichfung gefunden hat.
* Universal - Edition,
Wien-Leipzig, woselbst
das gesamte Schaffen
Arnold Sdiönbergs ver-
legt ist.
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