Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0577
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April-Heft
DOI article:Gilgamesch: eine Erzählung aus dem Alten Orient : zehnte Tafel zum Werke Janthurs
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GILGAMESCH
EINE ERZÄHLUNG AUS DEM ALTEN ORIENT
ZEHNTE TAFEL
ZUM WERKE JANTHURS
Mit Genehmigung des Inselverlages zu Leipzig
Siduri Sabitu, die Göttin, hat ihren Thron hoch über dem Ufer des Meeres.
Da sift sie und hütet den Eingang zum Garten der Götter. Einen Gürtel
trägt sie, fest gebunden über den Hüften. Ihr Leib ist eingehüllt in ein
langes Gewand.
Suchend läuft Gilgamesch hin und her, dann lenkt er die Schritte zum Tore.
Mit Fellen wilder Tiere ist er bekleidet, furchtbar ist seine Gestalt, göttergleidi
ist sein Leib. Weh ist in seinem Herzen, wie ein Wandrer ferner Wege sieht
er aus.
Sabifu schaut in die Ferne und spricht zu sich selber und sagt, während sie Rat
hält in ihrem Herzen: „Ist etwa der da einer, der in den Garten der Götter will?
Wo geht er hin mit stürmischen Schritten?“ Als Sabifu ihn näher sah, schloß sie
ihr Tor, sie verschlieft die Pforte und schiebt den Riegel davor.
Gilgamesch war entschlossen, hineinzudringen. Er erhob seine Hand und legte
die Axt an das Tor. Und Gilgamesch sprach zur Göttin Sabifu:
„Sabifu, was sahst du, daf du die Pforte mir schlieft? Dein Tor verschlössest du
mir und schobst den Riegel davor. Ich zerschmeife die Tür, den Riegel zerbrech ich!“
Sabifu öffnet das Tor und redet den Gilgamesch an am Eingang des Gartens.
Sabifu spricht zu ihm, zu dem Gilgamesch:
„Warum sind deine Wangen so abgezehrt? Warum ist deine Stirne düster ge-
faltet? Warum ist so betrübt deine Seele und gebeugt deine Gestalt? Warum
ist Weh in deinem Fierzen? Wie ein Wandrer ferner Wege siehst du aus. Von
Sturmwind und Sonne bist du gebräunt, von der Mittagsglut ist dein Gesicht
verbrannt. Warum bist du von weither über die Steppe geeilt?“
Gilgamesch sagt zu Sabifu, der Göttin:
„Wie sollten nicht abgezehrt sein die Wangen, nicht die Stirne düster gefaltet?
Wie sollte nicht meine Seele betrübt sein und nicht gebeugt meine Gestalt? Wie
sollte nicht Weh sein in meinem Herzen? Wie sollte ich nicht einem Wandrer
ferner Wege gleichen? Wie sollte nicht von Sturmwind und Sonne gebräunt, von
der Miffagsgluf verbrannt sein mein Anflif ? Wie sollte ich nicht weif hinweg
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