Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
Zitieren dieser Seite
Bitte zitieren Sie diese Seite, indem Sie folgende Adresse (URL)/folgende DOI benutzen:
https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0906
DOI Heft:
August-Heft
DOI Artikel:Keyserling, Hermann: Die Philosophie als Kunst
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0906
DIE PHILOSOPHIE ALS
KUNST
* Aus einem neuen
Werke des Grafen Key-
serling, das demnächst
unter dem Titel »Philo-
sophie als Kunst« im
Otto Reidil-Verlag in
Darmsfadt ersdieinen
wird.
HERMANN GRAF KEYSERLING
Die Zeiten ändern sich. Nachdem Jahrhunderte unter dem Philosophen ein
lichtscheues, eulenartiges, lebensfremdes Wesen verstanden hatten, das
aus bebrillten Gelehrtenaugen nur zu dem Zweck vom Papier fort in die
Natur fiinausschaut, um diese zu bemängeln und zu verneinen, gewinnt sein
Name allmählich die Bedeutung wieder, die er zu Platos Zeiten besah: des Lie-
benden, des leidenschaftlichen Liebhabers der Weisheit. Der Typus des Liebenden
ist aber nicht der abgeklärte Greis: es ist der stürmische Jüngling. Und nachdem
Jahrzehnte in der Metaphysik die trockenste, abstrakteste aller gelehrten Diszi-
plinen gesehen, die Quintessenz alles Langweiligen, wissen es heute schon einige
und ahnen es viele, dal^ Philosophie nicht so sehr eine Wissenschaft, als eine
Kunst ist. Die Kunst ist aber der höchste, lebendigste Ausdruck des Lebens.
Philosophie ist in der Tat nur in dem Sinne Wissensdiaft, wie jede Kunst dies
ist: nämlich als Meisterschaft der Ausdrucksmittel, Beherrschung der Technik,
Kenntnis und Verständnis des Materials. Des Denkers Technik ist das Denken.
Das Denkenkönnen besil^t für ihn wirklidi rein technische Bedeutung, macht sein
Können genau im gleichen Sinne aus, wie beim Bildhauer die Fähigkeit der Meibel-
führung — darf also bei jedem Philosophierenden, der an die Öffentlichkeit zu
treten wagt, als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Des Denkers Ausdrucks-
mittel ist die Sprache, insofern als eine Idee erst in klarer, deutlicher Fassung über-
haupt wirklidi wird. Sein Material endlich ist das Wissen. Wie der Musiker
Harmonielehre und Kontrapunkt im Blute haben, den Effekt jeder Tonfolge und
jedes Zusammenklangs im Verhältnis zum Vorhergehenden und Folgenden richtig
abzusdiäben fähig sein muh, so bedarf der Philosoph der Meisterschaft über die
Denkgesebe, des klaren Urteils über das Wertverhältnis der Gedanken zueinan-
der. Und wie wir beim Maler soweit erschöpfende Kenntnis seines Materials vor-
aussehen dürfen, daf> er auch den Chemismus seiner Farben begreift, ihre gegen-
seitige Beeinflussung und mögliche Veränderung voraussieht, so mu| der Philo-
soph die Wissenschaft seiner Zeit beherrschen und ihre Ergebnisse riditig werten,
damit das Weltbild, das er entwirft, nicht nadidunkelt oder an der Zersehung
der Farben zugrunde geht. In diesem und nur in diesem Sinne ist der Philosoph
Gelehrter, in des Wortes eigentlicher Bedeutung; sein Gelehrtentum betrifft die
824
KUNST
* Aus einem neuen
Werke des Grafen Key-
serling, das demnächst
unter dem Titel »Philo-
sophie als Kunst« im
Otto Reidil-Verlag in
Darmsfadt ersdieinen
wird.
HERMANN GRAF KEYSERLING
Die Zeiten ändern sich. Nachdem Jahrhunderte unter dem Philosophen ein
lichtscheues, eulenartiges, lebensfremdes Wesen verstanden hatten, das
aus bebrillten Gelehrtenaugen nur zu dem Zweck vom Papier fort in die
Natur fiinausschaut, um diese zu bemängeln und zu verneinen, gewinnt sein
Name allmählich die Bedeutung wieder, die er zu Platos Zeiten besah: des Lie-
benden, des leidenschaftlichen Liebhabers der Weisheit. Der Typus des Liebenden
ist aber nicht der abgeklärte Greis: es ist der stürmische Jüngling. Und nachdem
Jahrzehnte in der Metaphysik die trockenste, abstrakteste aller gelehrten Diszi-
plinen gesehen, die Quintessenz alles Langweiligen, wissen es heute schon einige
und ahnen es viele, dal^ Philosophie nicht so sehr eine Wissenschaft, als eine
Kunst ist. Die Kunst ist aber der höchste, lebendigste Ausdruck des Lebens.
Philosophie ist in der Tat nur in dem Sinne Wissensdiaft, wie jede Kunst dies
ist: nämlich als Meisterschaft der Ausdrucksmittel, Beherrschung der Technik,
Kenntnis und Verständnis des Materials. Des Denkers Technik ist das Denken.
Das Denkenkönnen besil^t für ihn wirklidi rein technische Bedeutung, macht sein
Können genau im gleichen Sinne aus, wie beim Bildhauer die Fähigkeit der Meibel-
führung — darf also bei jedem Philosophierenden, der an die Öffentlichkeit zu
treten wagt, als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Des Denkers Ausdrucks-
mittel ist die Sprache, insofern als eine Idee erst in klarer, deutlicher Fassung über-
haupt wirklidi wird. Sein Material endlich ist das Wissen. Wie der Musiker
Harmonielehre und Kontrapunkt im Blute haben, den Effekt jeder Tonfolge und
jedes Zusammenklangs im Verhältnis zum Vorhergehenden und Folgenden richtig
abzusdiäben fähig sein muh, so bedarf der Philosoph der Meisterschaft über die
Denkgesebe, des klaren Urteils über das Wertverhältnis der Gedanken zueinan-
der. Und wie wir beim Maler soweit erschöpfende Kenntnis seines Materials vor-
aussehen dürfen, daf> er auch den Chemismus seiner Farben begreift, ihre gegen-
seitige Beeinflussung und mögliche Veränderung voraussieht, so mu| der Philo-
soph die Wissenschaft seiner Zeit beherrschen und ihre Ergebnisse riditig werten,
damit das Weltbild, das er entwirft, nicht nadidunkelt oder an der Zersehung
der Farben zugrunde geht. In diesem und nur in diesem Sinne ist der Philosoph
Gelehrter, in des Wortes eigentlicher Bedeutung; sein Gelehrtentum betrifft die
824