Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0535
DOI Heft:
März-Heft
DOI Artikel:Hoeber, Fritz: Die Galerie Richard Zerner
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DIE GALERIE RICHARD ZERNER
in Frankfurt am Main bedeutet im hiesigen Kunstleben eine höchst beachtens-
werte Bereicherung, seitdem sie unter wissenschaftlicher Oberleitung des lang-
jährigen Vorstands des Kupferstichkabinetts am Städelschen Kunstinstitut, Herrn
Rudolf Schrey, ihre architektonisch schönen Räume im Stadtzentrum, in der Nähe
des „Frankfurter Hofes“, eröffnet hat.
Alle Länder und Zeiten erscheinen hier in hoher Qualität vertreten, wobei im
ganzen der freien Kunst, Malerei, Zeichnung und Plastik, vor dem Kunstgewerbe,
den Möbeln, der Vorrang eingeräumt wird. Einige der hervorragendsten Stücke
der Eröffnungsausstellung seien kurz genannt und stilkritisch beschrieben: 1. eine
frühchinesische Bronzevase im mykenischen Ornamentstil mit Widderköpfen, deren
bestimmte Entstehungszeit bei der Ständigkeit dieser Formen im ostasiatischen
Kunsthandwerk wohl nicht anzugeben ist; 2. eine attisch-jonische Kleinplastik
in Elfenbein, die genau den zierlichen Stil der Peisistratidenzeit widerspiegelt,
wie er vor 520 v. Chr. durch den Bildhauer Antenor der auf der Akropolis ge-
fundenen bunt bemalten »Korai« seine künstlerischste Steigerung empfing: Die
im Überschlag abgetreppten Verükalfalten des Obergewandes, die fein rieselnden
Fältchen des darunter befindlichen Chiton, die beiderseits über die Schultern fallen-
den, mehrfachen Lockensträhnen — all dieses erscheint der Marmor-Plastik jenes
„attisch-jonischen Rokoko“ durchaus verwandt; 3. zwei schlanke Altarflügel, weib-
liche Heilige von der herben Anmut des Meisters des Tiefenbronner Altars, des
Ulmer Hans Schüchlin, aus der Spätzeit des 15. Jahrhunderts. 4. Gegenüber solcher
schwäbischen Schüchternheit dieFormvollendung des Brügger »Meisters der heiligen
Blutkapelle«, eines jüngeren Geistesverwandten des Gerard David: die bei Richard
Zerner jetzt zu sehende Madonna im Purpurmantel auf Goldgrund, die einem
lebhaft bewegten Bambino die Brust gibt, gehörte vormals der SammlungHollitscher
in Berlin an. 5. Von Holzplastik seien erwähnt: eine spätgotische Madonna mit
Kind aus dem Hunsrückflecken Kastellaun (Regbez. Goblenz, Kreis Simmern)
stammend, aus einem Eichenblock geschnibt, in der saftig vollen Bildung des
Gesichts, des Knabenkörpers und den schweren Gewandfalten bereits die beginnende
Renaissance verratend. 6. Die vollendete süddeutsche Renaissance stellt die poly-
chrome Gruppe des Ritters St. Martin mit dem die Mantelhälfte heischenden
Bettler dar. Der Realismus der Ausführung, der kühne Schwung des sich auf-
bäumenden, dahinsprengenden Pferdes, der beabsichtigte Gegensah des in Face-
ansicht gegebenen Ritters zu dem im Profil gesehenen Bettlers kennzeichnen den
neuen, von Italien und den Niederlanden beeinflußten Stil.
Es wäre weiter aufmerksam zu machen auf eine hochgofische hl. Barbara,
wahrscheinlidi rheinisch, unter französischer Formeinwirkung stehend, auf einen
kreuztragenden Christus der gleichen Epoche aus der Bodenseegegend, auf eine
massig kraftvolle Steinmadonna, süddeutsch, Anfang 16. Jahrhunderts, ferner auf
eine feintonige Winterlandschaft mit einer »Ruhe auf der Flucht« in der Art des
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in Frankfurt am Main bedeutet im hiesigen Kunstleben eine höchst beachtens-
werte Bereicherung, seitdem sie unter wissenschaftlicher Oberleitung des lang-
jährigen Vorstands des Kupferstichkabinetts am Städelschen Kunstinstitut, Herrn
Rudolf Schrey, ihre architektonisch schönen Räume im Stadtzentrum, in der Nähe
des „Frankfurter Hofes“, eröffnet hat.
Alle Länder und Zeiten erscheinen hier in hoher Qualität vertreten, wobei im
ganzen der freien Kunst, Malerei, Zeichnung und Plastik, vor dem Kunstgewerbe,
den Möbeln, der Vorrang eingeräumt wird. Einige der hervorragendsten Stücke
der Eröffnungsausstellung seien kurz genannt und stilkritisch beschrieben: 1. eine
frühchinesische Bronzevase im mykenischen Ornamentstil mit Widderköpfen, deren
bestimmte Entstehungszeit bei der Ständigkeit dieser Formen im ostasiatischen
Kunsthandwerk wohl nicht anzugeben ist; 2. eine attisch-jonische Kleinplastik
in Elfenbein, die genau den zierlichen Stil der Peisistratidenzeit widerspiegelt,
wie er vor 520 v. Chr. durch den Bildhauer Antenor der auf der Akropolis ge-
fundenen bunt bemalten »Korai« seine künstlerischste Steigerung empfing: Die
im Überschlag abgetreppten Verükalfalten des Obergewandes, die fein rieselnden
Fältchen des darunter befindlichen Chiton, die beiderseits über die Schultern fallen-
den, mehrfachen Lockensträhnen — all dieses erscheint der Marmor-Plastik jenes
„attisch-jonischen Rokoko“ durchaus verwandt; 3. zwei schlanke Altarflügel, weib-
liche Heilige von der herben Anmut des Meisters des Tiefenbronner Altars, des
Ulmer Hans Schüchlin, aus der Spätzeit des 15. Jahrhunderts. 4. Gegenüber solcher
schwäbischen Schüchternheit dieFormvollendung des Brügger »Meisters der heiligen
Blutkapelle«, eines jüngeren Geistesverwandten des Gerard David: die bei Richard
Zerner jetzt zu sehende Madonna im Purpurmantel auf Goldgrund, die einem
lebhaft bewegten Bambino die Brust gibt, gehörte vormals der SammlungHollitscher
in Berlin an. 5. Von Holzplastik seien erwähnt: eine spätgotische Madonna mit
Kind aus dem Hunsrückflecken Kastellaun (Regbez. Goblenz, Kreis Simmern)
stammend, aus einem Eichenblock geschnibt, in der saftig vollen Bildung des
Gesichts, des Knabenkörpers und den schweren Gewandfalten bereits die beginnende
Renaissance verratend. 6. Die vollendete süddeutsche Renaissance stellt die poly-
chrome Gruppe des Ritters St. Martin mit dem die Mantelhälfte heischenden
Bettler dar. Der Realismus der Ausführung, der kühne Schwung des sich auf-
bäumenden, dahinsprengenden Pferdes, der beabsichtigte Gegensah des in Face-
ansicht gegebenen Ritters zu dem im Profil gesehenen Bettlers kennzeichnen den
neuen, von Italien und den Niederlanden beeinflußten Stil.
Es wäre weiter aufmerksam zu machen auf eine hochgofische hl. Barbara,
wahrscheinlidi rheinisch, unter französischer Formeinwirkung stehend, auf einen
kreuztragenden Christus der gleichen Epoche aus der Bodenseegegend, auf eine
massig kraftvolle Steinmadonna, süddeutsch, Anfang 16. Jahrhunderts, ferner auf
eine feintonige Winterlandschaft mit einer »Ruhe auf der Flucht« in der Art des
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