Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

DOI issue:
März-Heft
DOI article:
Mengelberg, Rudolf: Neue Bahnen: Gedanken über unsere musikalische Entwicklung
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0521

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
NEUE BAHNEN
Gedanken über unsere musikalische Entwicklung
Dr. Curf Rudolf Mengelberg
Ein Lusfrum Weltgeschichte liegt hinter uns von unerhörter Größe und
Gewalt. Noch stehen wir mitten in einer Entwicklung von niegeahnter
Tiefgründigkeit. Ist der Kulminationspunkt schon überschritten — mit Gewißheit
vermags keiner zu sagen. Wir alle fühlen nur um uns und in uns das Erlebnis
des Abbruchs einer Vergangenheit, des Aufbaus einer Zukunft, gleichzeitig,
rastlos, spannungsvoll sondergleidien. Die Seelen der Völker werden aufgepeitscht
vom Weltsturm. Häßlichkeit und Gemeinheit, Schönheit und Edelmut sind ver-
schlungen in den Sieg; alles was Kraft heißt, strebt nach oben, Schwädie, leere
Form und Konvention muß vergehen. Mit den äußeren Symbolen steigen und
fallen die inneren Werte. Die politischen und sozialen Wandlungen spiegeln sich
in der Kunstauffassung.
Dabei ist zu beobachten, daß eigentlich weniger das Kunstschaffen in neue
Bahnen gelenkt, als vielmehr unsere Einstellung auf die verschiedenen, schöpfe-
rischen Persönlichkeiten und Stilarten eine andere wird. Denn die Künste ent-
wickeln sich nach eigenen inneren Geseßen, mehr oder weniger parallel laufend
der allgemeinen politischen und sozialen Entwicklung, aber nicht in direkter zeit-
licher Abhängigkeit von ihr. Schaffende Künstler als Vorahner und Weiser neuer
kommender Epochen der Mensdiheitsgeschichte sind von der Masse ihrer Zeit-
genossen meistens verkannt und nicht verstanden worden. Erst wenn das
allgemeine politische, soziale und geistige Leben weiter gediehen ist, werden sie
erkannt und werden ihre Schöpfungen Allgemeingut.
Gerade auch in der Musik, obwohl minder ans Gegenständliche und Gedank-
liche gebunden als Malerei und Dichtkunst, können wir diese Erscheinung beob-
aditen. Gerade hier, wo der Geist einer kommenden und werdenden Zeit weniger im
Material und Stoff als im Wesen der Werke selbst zum Ausdruck kommt, fühlen
wir das eigenartige Band zwischen Kunst und Gesdiichte, fühlen wir den Künstler
als Seher, ja als Mitschöpfer der Geschichte, sehen wir andererseits Geschmack
und Neigung der großen Masse, beeinflußt durch die Zeit, sinkend und wadisend
mit der Zeit.
Während nun in Zeiten ruhiger, gleichmäßiger Entwicklung auch der Geschmack
nur allmähliche Wandlungen erfährt, das Musikbedürfnis sich nur langsam ver-
schiebt, zeichnen sich große Umwälzungen revolutionärer Natur in Inhalt und
Form der allgemeinen Musikpflege aufs schärfste ab.
So kann man den Geist der einzelnen Epochen musikalischer Kultur nur im
engsten Zusammenhang mit der sozialen und allgemeinen Gesdiichte redit
verstehen. In ihr sind die einzelnen Perioden der Musikgeschichte bedingt.

461

36
 
Annotationen