Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0522
DOI Heft:
März-Heft
DOI Artikel:Mengelberg, Rudolf: Neue Bahnen: Gedanken über unsere musikalische Entwicklung
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Dies läßt sich bis in Details verfolgen: für die Kirchen- und Opernmusik und
ihre Pflege im 17, und 18, Jahrhundert, für die Musik der Rokokozeit und
den scharf sich abhebenden Übergang, parallel der französischen Revolution,
mit der Eroica als bedeutsamsten Wendepunkt und der der neuen Zeit ent-
sprechenden neuen Stellung der Musik im allgemeinen gesellsdraftlichen Leben;
für die folgende Epodre der Romantik; für die einzelnen Schulen stark nationaler
Färbung in der zweiten Hälfte des 19* Jahrhunderts, und schließlich für die
Periode glanzvollen, sensationellen, hypertrophischen Musikbetriebes, — ent-
sprechend dem unerhörten, materiellen Aufschwung vor allem Deutschlands und
unter dessen ausgesprochener Vorherrschaft.
Dann tritt durch den Weltkrieg und seine noch unübersehbaren Folgen eine
Wendung ein von voraussichtlich sehr tiefgehender Bedeutung. Wir stehen
heute mitten in dieser Ubergangsepoche. Wohin diese neue Wendung zielt,
worin der entscheidende Unterschied zwischen der Musikkultur des 19. und der des
20. Jahrhunderts bestehen wird, ist heute aus vielen Anzeichen wahrnehmbar und
historisch so klar motivierbar, daß hier kaum ein Zweifel bestehen kann.
Nach der groben Tat Beethovens, der die formalen Fesseln der Musik sprengte,
ihr das Rein-Spielerische der Rokokoepoche wieder nahm und ihrem Gestaltungs-
kreis neue grobe Persönlichkeitswerte errang, Persönlichkeitswerte, die auf
breitestem Boden völkisdien Lebens beruhten, verengte sich in der Romantik
der Wirkungskreis der Musik, und die ganze Art der Musikpflege bekam
immer mehr etwas Exklusives. Dies „Exklusive“, das die Musikpflege um
die Wende des 19. Jahrhunderts charakterisierte, äußerte sich vor allem in zwei
typischen Erscheinungen. Das Musikleben beherrschte einerseits ein Kreis ge-
bildeter, geistig hochstehender, aber einseitig orientierter Musikfreunde, die sich
um Schumann und vor allem Brahms scharten, und in dieser Kunst, deren
eigentlichen Kernpunkt die Kammermusik bildete, die höchsten Offenbarungen
des Genius anbeteten, — andererseits der Snobismus eines sensationellen
musikalischen Großbetriebes, der glanzvolle Premieren liebte und stets raffinierte
Überraschungen, „Nie-dagewesenes“, verlangte.
Mit diesem fraglos sehr großzügigen, blendenden, interessanten, aber keines-
wegs tiefer im Volk wurzelnden Musikleben ist der Name Richard Strauß eng
verbunden. Strauß’ phänomenale Begabung ist den Forderungen des Augen-
blicks in wirklich einzigartiger Weise gerecht geworden. Er bleibt der glänzende
Repräsentant einer glänzenden Epoche. Aber durch die Entwicklung der
Geschichte ist seine Persönlichkeit schneller als man ahnen konnte, aus dem
Mittelpunkt des musikalischen Interesses gerückt, wie eben so manches, was
für die Zeit vor 1914 repräsentativ war, Richard Strauß gehört wie Wilhelm II.
in ein reidies, „glückliches“ Deutschland.
Gänzlich als „Outsider“ erscheint heute die exklusive Gruppe der exklusiven
Brahmsfreunde. Diese Spätblüte, die in ruhig-milder Herbstsonne noch manches
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ihre Pflege im 17, und 18, Jahrhundert, für die Musik der Rokokozeit und
den scharf sich abhebenden Übergang, parallel der französischen Revolution,
mit der Eroica als bedeutsamsten Wendepunkt und der der neuen Zeit ent-
sprechenden neuen Stellung der Musik im allgemeinen gesellsdraftlichen Leben;
für die folgende Epodre der Romantik; für die einzelnen Schulen stark nationaler
Färbung in der zweiten Hälfte des 19* Jahrhunderts, und schließlich für die
Periode glanzvollen, sensationellen, hypertrophischen Musikbetriebes, — ent-
sprechend dem unerhörten, materiellen Aufschwung vor allem Deutschlands und
unter dessen ausgesprochener Vorherrschaft.
Dann tritt durch den Weltkrieg und seine noch unübersehbaren Folgen eine
Wendung ein von voraussichtlich sehr tiefgehender Bedeutung. Wir stehen
heute mitten in dieser Ubergangsepoche. Wohin diese neue Wendung zielt,
worin der entscheidende Unterschied zwischen der Musikkultur des 19. und der des
20. Jahrhunderts bestehen wird, ist heute aus vielen Anzeichen wahrnehmbar und
historisch so klar motivierbar, daß hier kaum ein Zweifel bestehen kann.
Nach der groben Tat Beethovens, der die formalen Fesseln der Musik sprengte,
ihr das Rein-Spielerische der Rokokoepoche wieder nahm und ihrem Gestaltungs-
kreis neue grobe Persönlichkeitswerte errang, Persönlichkeitswerte, die auf
breitestem Boden völkisdien Lebens beruhten, verengte sich in der Romantik
der Wirkungskreis der Musik, und die ganze Art der Musikpflege bekam
immer mehr etwas Exklusives. Dies „Exklusive“, das die Musikpflege um
die Wende des 19. Jahrhunderts charakterisierte, äußerte sich vor allem in zwei
typischen Erscheinungen. Das Musikleben beherrschte einerseits ein Kreis ge-
bildeter, geistig hochstehender, aber einseitig orientierter Musikfreunde, die sich
um Schumann und vor allem Brahms scharten, und in dieser Kunst, deren
eigentlichen Kernpunkt die Kammermusik bildete, die höchsten Offenbarungen
des Genius anbeteten, — andererseits der Snobismus eines sensationellen
musikalischen Großbetriebes, der glanzvolle Premieren liebte und stets raffinierte
Überraschungen, „Nie-dagewesenes“, verlangte.
Mit diesem fraglos sehr großzügigen, blendenden, interessanten, aber keines-
wegs tiefer im Volk wurzelnden Musikleben ist der Name Richard Strauß eng
verbunden. Strauß’ phänomenale Begabung ist den Forderungen des Augen-
blicks in wirklich einzigartiger Weise gerecht geworden. Er bleibt der glänzende
Repräsentant einer glänzenden Epoche. Aber durch die Entwicklung der
Geschichte ist seine Persönlichkeit schneller als man ahnen konnte, aus dem
Mittelpunkt des musikalischen Interesses gerückt, wie eben so manches, was
für die Zeit vor 1914 repräsentativ war, Richard Strauß gehört wie Wilhelm II.
in ein reidies, „glückliches“ Deutschland.
Gänzlich als „Outsider“ erscheint heute die exklusive Gruppe der exklusiven
Brahmsfreunde. Diese Spätblüte, die in ruhig-milder Herbstsonne noch manches
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