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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Müller-Freienfels, Richard: Die zeitgenössische Philosophie in der Kultur der Gegenwart
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DIE ZEITGENÖSSISCHE PHILOSOPHIE IN DER
KULTUR DER GEGENWART.

Richard Müller-Freienfel s.

M das Jahr 1900 stand cs mit der Philosophie in deutsdren Landen recht
betrüblidi. Die meisten derjenigen, die auf den amtlichen Lehrstühlen der
Philosophie thronten, waren — bei Lidit besehen — Historiker und Philologen,
die niemals den freien Flug philosophisdien Geistes wagten. Andere wie der
fraglos philosophisdi veranlagte Ernst Madi sdrämten sidi dieser Anlage ein
wenig und bestrebten sidr, stets nur als Naturforsdier zu gelten. Kein Wunder, daß fast nur
Außenseiter wie Eduard von Hartmann oder Nießsdie den Mut zu eignen Systemen fanden,
und nur sie audi zündeten (von den Zünftigen freilidr darum gesdimäht) im Lande, nur sic
wurden Ereignisse im Kulturleben, während die offizielle Philosophie abseits stand, ein akademischer
Sport war, eine Betätigung des Geistes, die im wesentlichen ihre eigne Vergangenheit studierte
und keine Wediselwirkung sudite mit der übrigen Welt.
Das ist nun seit etwa 1900 anders geworden. Die Philosophen, die vorher ganz in ein
akademisches Epigonentum geraten waren, haben mehr Mut zu sidr selber gefunden, und eine
ganze Reihe von Systemen ist rasdr hintereinander entstanden. Es sind das z. T. Gebäude
von kühnem Entwurf, großgedachten Grundrissen und staftlidier Ardritektur. Es wäre im
hödrsfen Grade unredrt, zu verkennen, daß sehr viel Geist, Sdrarfsinn und Gelehrsamkeit zu-
sammengewirkt haben, um sie emporzutürmen. Lind dodr stehen sie in unsrer Kultur irgendwie
fremd und starr da. Sie werden so redrt von niemand bewohnt, selbst von ihren Erbauern und
deren Anhängern nidit immer. Früher, zur Zeit der Griechen, war Philosophie eine Sadie des
Lebens und Erlebens, die großen Metaphysiker des 16. und 17. Jahrhunderts, die Dcscartes,
Spinoza und Leibniz packten die Mit- und Nachwelt in weitesten Kreisen, und nidit nur Gelehrte
gingen bei ihnen in die Schule. Die englisdien Philosophen waren immer Leute von Welt,
und ihre Gedanken münzten sidr leicht in geistige Scheidemünze um. Lind selbst die weit
sdiwierigeren deutsdren Philosophen um Kant wurden Mädrte des Lebens, wirkten auf Dichter,
Künstler, Politiker und, wenn audi durch Zwisdienglieder, auf das Volk im weiten Sinne. Aber
die Philosophie der Gegenwart steht fremd in ihrer Zeit, man zollt ihr, ohne sie zu kennen,
einen sdieuen Respekt von weitem, aber man kümmert sich im übrigen wenig um ihre Ergebnisse.
Die meisten derartigen Werke sind in der ersten Auflage stecken geblieben, die zweite haben
nur wenige überschritten. — Immerhin ein Problem des Nadidenkens wert, warum kaum einer
dieser Denker Resonanz gefunden hat im Volke. —
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Überblicken wir zunächst einmal die Situation! Mindestens ein Dußend im größten Stile
geplante philosophisdie Gedankengebäude stehen da ganz oder zum Teil fertig vor uns. Viele
freilidi haben, dem historischen Geist der Zeit opfernd, einen älteren Sdiußpatron erwählt, unter
dessen Fahne sie jedodi eigne Wege suditen. Vor allem auf Kantscher oder angeblidi Kantscher
Basis sind eine ganze Anzahl eigner Systeme erwachsen. Hermann Cohens spitzfindige, wenn
audi oft überspißte Philosophie ist da zu nennen, die zahlreiche betriebsame Jünger gefunden
hat. Von Kant, allerdings ein wenig mehr nodi von Fichte, gingen aus die sogenannten Wert-
philosophen Windelband, Rickert, Münsterberg, die sich audi gern Neuidealisten nennen,
obwohl audi andere Denker wie Eucken auf diesen Namen Ansprudi erheben. Von Kant ging
 
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