Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/1920
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0295
DOI Heft:
Januar-Heft
DOI Artikel:Hoeber, Fritz: Objektive Kunstbetrachtung und subjektive Kunstpolitik
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0295
OBJEKTIVE KUNSTBETRACHTUNG UND
SUBJEKTIVE KUNSTPOLITIK.
Dt. Fril? Hoeber.
Man wird dem so dringlichen Problem, wie sich Kunst und Kunstkritik
zueinander zu verhalten haben, am ehesten dann gerecht, wenn man
prinzipiell unterscheidet zwischen der objektiven Kunstbetrachtung, die mit
Recht einen Anspruch auf Allgemein Verbindlichkeit erheben darf, und einer
persönlich aktiven Stellungnahme zur Kunst, die, wie jede voluntaristische
Lebensäu^erung, natürlich immer nur auf das eigene Individuum beschränkt
bleibt, und die man wohl am treffendsten mit „Kunstpolitik“ bezeichnet.
Das innere Nachschaffen des Kunstwerks.
Zu der von der Kunstbetrachtung gestellten Aufgabe gehört zuerst eine gehorsame Phantasie,
die allen individuellen Absichten des gestaltenden Künstlers getreu nachwandelt: Sie soll nicht
nur die Elemente des Aufbaus riditig erkennen, sondern auch ihre jedesmal anders gewollten
Beziehungen intuitiv erraten und deren Anordnung ganz im Sinne des Sdiöpfcrs treffen. Denn
gerade hierin wird häufig gesündigt, dab ein Kunstwerk nadi einer ihm fremden Regel verstanden
wird und dann im geistigen Abbild des Aufnehmenden zur Karikatur verunstaltet erscheint.
Die Beispiele sind so häufig, dab sidi fast eine Aufzählung erübrigt: Berühmt sind vor allem
die Sdiwierigkeiten, die seinerzeit die liedartig geschlossene Melodie der neuen Wagnersdien
Komposition der unendlidien Harmonie und des kurzen Leitmotivs bereitet haben. Berühmt ist
die kunstfremde Überspannung der „Reliefforderung“ in den bildenden Künsten, wie sie die
Hildebrand-Schule ausiibt, die aber damit bei sämtlichen, außerhalb ihres engen Ursprungskreises
stehenden, anderen Richtungen eine falsdie Synthese vollzieht.
Also Grundbedingung einer objektiven Kunstbetrachtung ist die objektive Einstellung auf das
individuelle Kunsfobjekt. Das läbt sidi durch Übung bis zu einem bestimmten Grade erlernen,
falls eine gewisse instinktmäbige künstlerische Begabung als Voraussetzung vorhanden ist,
die sidi am deutlichsten vielleicht in einer dilettantisdicn Beschäftigung mit der Kunst: in Zeichnen,
Musizieren, Literarisieren usw. ausspridit.
Wenn der Student der Kunstgeschichte zur umständlichen Besdireibung und Analyse vieler, ver-
schiedenartiger Kunstwerke immer wieder angehalten wird, so ist das die bewährte Methode,
die individuelle Einstellung auf die inhaltlichen, formalen und geistigen Eigcnsdiaftskomplexc
der ihm zunächst fremdartigen Kunstwerke vergangener Zeiten und ferner Länder sidi anzueignen:
er zeichnet sozusagen mit seinem Verstand jene Schöpfungen in ihrem Wadisen und ihrer
Vollendung nach.
Allein irgend eine wertende, persönlidie Stellung nimmt soldie objektivierende Betrachtungsweise
dem Kunstwerk gegenüber noch nicht ein.
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SUBJEKTIVE KUNSTPOLITIK.
Dt. Fril? Hoeber.
Man wird dem so dringlichen Problem, wie sich Kunst und Kunstkritik
zueinander zu verhalten haben, am ehesten dann gerecht, wenn man
prinzipiell unterscheidet zwischen der objektiven Kunstbetrachtung, die mit
Recht einen Anspruch auf Allgemein Verbindlichkeit erheben darf, und einer
persönlich aktiven Stellungnahme zur Kunst, die, wie jede voluntaristische
Lebensäu^erung, natürlich immer nur auf das eigene Individuum beschränkt
bleibt, und die man wohl am treffendsten mit „Kunstpolitik“ bezeichnet.
Das innere Nachschaffen des Kunstwerks.
Zu der von der Kunstbetrachtung gestellten Aufgabe gehört zuerst eine gehorsame Phantasie,
die allen individuellen Absichten des gestaltenden Künstlers getreu nachwandelt: Sie soll nicht
nur die Elemente des Aufbaus riditig erkennen, sondern auch ihre jedesmal anders gewollten
Beziehungen intuitiv erraten und deren Anordnung ganz im Sinne des Sdiöpfcrs treffen. Denn
gerade hierin wird häufig gesündigt, dab ein Kunstwerk nadi einer ihm fremden Regel verstanden
wird und dann im geistigen Abbild des Aufnehmenden zur Karikatur verunstaltet erscheint.
Die Beispiele sind so häufig, dab sidi fast eine Aufzählung erübrigt: Berühmt sind vor allem
die Sdiwierigkeiten, die seinerzeit die liedartig geschlossene Melodie der neuen Wagnersdien
Komposition der unendlidien Harmonie und des kurzen Leitmotivs bereitet haben. Berühmt ist
die kunstfremde Überspannung der „Reliefforderung“ in den bildenden Künsten, wie sie die
Hildebrand-Schule ausiibt, die aber damit bei sämtlichen, außerhalb ihres engen Ursprungskreises
stehenden, anderen Richtungen eine falsdie Synthese vollzieht.
Also Grundbedingung einer objektiven Kunstbetrachtung ist die objektive Einstellung auf das
individuelle Kunsfobjekt. Das läbt sidi durch Übung bis zu einem bestimmten Grade erlernen,
falls eine gewisse instinktmäbige künstlerische Begabung als Voraussetzung vorhanden ist,
die sidi am deutlichsten vielleicht in einer dilettantisdicn Beschäftigung mit der Kunst: in Zeichnen,
Musizieren, Literarisieren usw. ausspridit.
Wenn der Student der Kunstgeschichte zur umständlichen Besdireibung und Analyse vieler, ver-
schiedenartiger Kunstwerke immer wieder angehalten wird, so ist das die bewährte Methode,
die individuelle Einstellung auf die inhaltlichen, formalen und geistigen Eigcnsdiaftskomplexc
der ihm zunächst fremdartigen Kunstwerke vergangener Zeiten und ferner Länder sidi anzueignen:
er zeichnet sozusagen mit seinem Verstand jene Schöpfungen in ihrem Wadisen und ihrer
Vollendung nach.
Allein irgend eine wertende, persönlidie Stellung nimmt soldie objektivierende Betrachtungsweise
dem Kunstwerk gegenüber noch nicht ein.
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