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Feuer: Monatsschrift für Kunst und künstlerische Kultur — 1.1919/​1920

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Metzger-Hoesch, Oskar: Der Untergang des Abendlandes?
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https://doi.org/10.11588/diglit.29152#0711

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DER UNTERGANG DES
ABENDLANDES?

OSKAR HOESCH, DÜSSELDORF.

Relativismus ist eines der hervorragenden Kennzeichen unserer Zeit, in der reinen Wissenschaft
(besonders in der Physik), in der Weltanschauung und im praktischen Leben. Relativismus
ist audi das gemeinsame Merkmal für drei grobe Werke, die in noch stark zunehmendem
Mab trob ihrer Schwierigkeit und hohen Preise einen ganz erstaunlichen äußeren Erfolg haben :
Vaihingers Philosophie des Als-Ob (Berlin 1920, 4. Aufl., 66 Mk.), die unsere Er-
kenntnis in blobe Fiktionen auf löst und das Ziel der Wissenschaft wie der Weltanschauung
auf allen Gebieten nach Art des amerikanisdien Pragmatismus darin erblickt, fruchtbare Fiktionen
aufzuzeigen, Graf Keyserlings »Reisetagebudi eines Philosophen«, vielleicht das
abgeklärteste kulturphilosophische Werk der Gegenwart (2 Bd., Reichl-Darmstadt, 3. Aufl. im
Drude, etwa 108 Mk.); endlich das Buch, das der Gegenstand dieser Betrachtung sein soll:
Oswald Spengler, »Der Untergang des Abendlandes« (Bd. 1, bisher allein erschienen,
5. Aufl. im Druck, Miindien, Beck, 1920, etwa 38 Mk.), ein faszinierendes atemraubendes Werk.
Wir haben es hier mit nichts Geringerem als einer geistigen Revolution zu tun. Aber es
ist kein nachnovemberliches Manifest, das in überhebendem Dünkel post festum erklärt: Haben
wirs nicht schon immer gesagt? Nein, dieser (über 640 Seiten starke) Band war in seinen Grund-
zügen schon vor dem Kriege fertig und wurde 1917 vollendet. Heute wird das 20. Tausend
gedruckt. — Man mub freilidi mit einer Einschränkung beginnen: Der Titel »Untergang des
Abendlandes« ist nur eines der Ergebnisse des Budies, dessen Hauptthema der Untertitel
zeigt: »Morphologie der Weltgesdrichte«, anders ausgedrückt: eine neue, universale Gesdiichts-
philosophie von höchster Warte aus. Der Grundgedanke in knappster Form ist der: Die Ein-
teilung der Geschidrte nach Altertum, Mittelalter und Neuzeit ist grundsätzlich verfehlt; dadurdi
schrumpfen die Tafsadren der ältesten Kultur zu Miniaturen zusammen, und man hält die
Gesdrichte für immer widitiger, je mehr man sich der Gegenwart nähert. Bei solch falscher
historischer Perspektive erkennen wir nie die Seele einer Kultur. Nur die Betrachtung nach
Kulturorganismen oder Kulturkreisen — Spenglers kopernikanische Entdeckung, wie er im
Stile Kants selbst sagt — kann uns zu diesem Ziele führen; Weltgeschidrte ist „das Phänomen
einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlidrer Kraft aus dem Sdiobe einer mütterlichen
Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, auf-
bliihen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigene Form aufprägt, von denen
jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidensdiaften, -ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren
eignen Tod hat“. Spengler wie Keyserling treiben eine geopolitisdie Kulturphilosophie mit
einer staunenswerten Metempsychose. So geht Spengler an die Riesenaufgabe, die er sich stellt,
an Weite und l iefe des Blicks Chamberlain iibertreffend, Polyhistor wie Wundt, durch und durdi

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