moderner Mensch, Mathematiker und Künstler zugleich, scharf, klar und unbarmherzig in seiner
Kritik, oft wieder überraschend feinfühlend in seinem Urteil. „Wenn unter dem Eindruck dieses
Buches“ — so heibt ein nachgerade sdion berühmt gewordener Sah daraus — „sidr Menschen
der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der
Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was idi wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres
wünschest“. Faszinierend wirkt das Buch, jedenfalls bei der ersten Lektüre, und troh der
Schwierigkeit, die es durch seine unerhörte Universalität bietet, wird man in Spannung erhalten
bis zur lebten Seite. Eine ganze Literatur wird sidi an das Budi ansdilieben; hier kann nur
versudit werden, die Hauptgedanken einmal herauszuholen und dann zu erörtern.
Jede der groben Kulturen der Weltgeschidite, die drinesisdie, babylonische, ägyptische, indisdie,
antike, arabisdie, abendländische, die Mayakultur und die entstehende russische ist ein durchaus
selbständiger Organismus, jede hat einen gleichartigen Bau: Geburt, Jugend, Alter, Tod, und jede
hat somit auch ihre eigene Seele. So heibt Weltgeschichte treiben, sidi intuitiv in die Physiognomik
der Einzelkulturen versenken, indem man alle kulturellen Erzeugnisse von der strengen Wissen-
schaft, der Mathematik und Physik an bis zur Philosophie, Volkswirtsdiaft, Kunst, Religion und
Staat innerhalb einer Kultur auf ihre seelisdie Verfassung und gegenseitige Beziehung hin untern
sucht, im Sinne Goethes erschaut, als geistige Porträts zeichnet — denn es gibt nicht eine Kultur
sondern Kulturen, Mathematiken statt Mathematik, Philosophien statt Philosophie, Räume statt
Raum, Künste statt Kunst, kurz: statt einer Wahrheit nur Wahrheiten, und zwar soviel, als es
grobe Kulturen gibt. „Die eine Seele spielt das Welterlebnis in As-Dur, die andere in F-Moll.“
Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Auch jede Kultur stirbt, wenn sie ihre ideale Lebensdauer
von etwa einem Jahrtausend durchlaufen hat. „Eine unübersehbare Masse mensdlficher Wesen,
ein uferloser Strom . . . das ist der Untergrund des Bildes der Mensdiengeschichte. . . . über
diese Fläche hin aber ziehen die groben Kulturen ihre majestätischen Wellenkreise. Sie taudien
plöhlidi auf, verbreiten sich in praditvollen Linien, glätten sidi, verschwinden, und der Spiegel der
Flut liegt wieder einsam und sdilafend da.“ Gewib, die Einzelergebnisse in der Gesdiidite hätten
audi anders ausfallen können, die Epochen aber bleiben, sie sind geradezu vorbeslimmbar. So-
bald die Möglichkeiten der Seele einer Kultur ersdiöpft sind, folgt die Erstarrung, d. h. die Kultur
wird Zivilisation. Kultur und Zivilisation, „das ist der lebendige Leib eines Seelentums und seine
Mumie“. Zivilisation schafft nidit mehr, sie deutet nur noch um. Das ergibt besonders deutlich
ein Vergleich der Abendländischen Zivilisation mit der entspredienden Stufe der antiken Kultur,
nämlidi der hellenistischen Zivilisation.
ANTIKE KULTUR SEIT 1100 v. C. ABENDLÄNDISCHE KULTUR SEIT 900 n. C.
FRÜHLING
Landschaftlich intuitiv. Mäditige Schöpfungen einer erwachenden, traumschweren Seele.
Olympische Mythologie Germ. Katholizismus. Heliand
Homer Marienkult, Parzeval, Edda, Nibelungen
Kosmogonien Von Dante bis zur Mystik und Sdiolastik
SOMMER
Reifende Bewußtheit, Städtisch-bürgerliche und kritische Regungen.
Dionysosreligion, Orphik Protestantismus
Vorsokratik Galilei, Deskartes bis Leibniz
Pythagoreer Math. Analysis, Newton, Jansenisten, Puritaner
636
Kritik, oft wieder überraschend feinfühlend in seinem Urteil. „Wenn unter dem Eindruck dieses
Buches“ — so heibt ein nachgerade sdion berühmt gewordener Sah daraus — „sidr Menschen
der neuen Generation der Technik statt der Lyrik, der Marine statt der Malerei, der Politik statt der
Erkenntniskritik zuwenden, so tun sie, was idi wünsche, und man kann ihnen nichts Besseres
wünschest“. Faszinierend wirkt das Buch, jedenfalls bei der ersten Lektüre, und troh der
Schwierigkeit, die es durch seine unerhörte Universalität bietet, wird man in Spannung erhalten
bis zur lebten Seite. Eine ganze Literatur wird sidi an das Budi ansdilieben; hier kann nur
versudit werden, die Hauptgedanken einmal herauszuholen und dann zu erörtern.
Jede der groben Kulturen der Weltgeschidite, die drinesisdie, babylonische, ägyptische, indisdie,
antike, arabisdie, abendländische, die Mayakultur und die entstehende russische ist ein durchaus
selbständiger Organismus, jede hat einen gleichartigen Bau: Geburt, Jugend, Alter, Tod, und jede
hat somit auch ihre eigene Seele. So heibt Weltgeschichte treiben, sidi intuitiv in die Physiognomik
der Einzelkulturen versenken, indem man alle kulturellen Erzeugnisse von der strengen Wissen-
schaft, der Mathematik und Physik an bis zur Philosophie, Volkswirtsdiaft, Kunst, Religion und
Staat innerhalb einer Kultur auf ihre seelisdie Verfassung und gegenseitige Beziehung hin untern
sucht, im Sinne Goethes erschaut, als geistige Porträts zeichnet — denn es gibt nicht eine Kultur
sondern Kulturen, Mathematiken statt Mathematik, Philosophien statt Philosophie, Räume statt
Raum, Künste statt Kunst, kurz: statt einer Wahrheit nur Wahrheiten, und zwar soviel, als es
grobe Kulturen gibt. „Die eine Seele spielt das Welterlebnis in As-Dur, die andere in F-Moll.“
Es gibt keine ewigen Wahrheiten. Auch jede Kultur stirbt, wenn sie ihre ideale Lebensdauer
von etwa einem Jahrtausend durchlaufen hat. „Eine unübersehbare Masse mensdlficher Wesen,
ein uferloser Strom . . . das ist der Untergrund des Bildes der Mensdiengeschichte. . . . über
diese Fläche hin aber ziehen die groben Kulturen ihre majestätischen Wellenkreise. Sie taudien
plöhlidi auf, verbreiten sich in praditvollen Linien, glätten sidi, verschwinden, und der Spiegel der
Flut liegt wieder einsam und sdilafend da.“ Gewib, die Einzelergebnisse in der Gesdiidite hätten
audi anders ausfallen können, die Epochen aber bleiben, sie sind geradezu vorbeslimmbar. So-
bald die Möglichkeiten der Seele einer Kultur ersdiöpft sind, folgt die Erstarrung, d. h. die Kultur
wird Zivilisation. Kultur und Zivilisation, „das ist der lebendige Leib eines Seelentums und seine
Mumie“. Zivilisation schafft nidit mehr, sie deutet nur noch um. Das ergibt besonders deutlich
ein Vergleich der Abendländischen Zivilisation mit der entspredienden Stufe der antiken Kultur,
nämlidi der hellenistischen Zivilisation.
ANTIKE KULTUR SEIT 1100 v. C. ABENDLÄNDISCHE KULTUR SEIT 900 n. C.
FRÜHLING
Landschaftlich intuitiv. Mäditige Schöpfungen einer erwachenden, traumschweren Seele.
Olympische Mythologie Germ. Katholizismus. Heliand
Homer Marienkult, Parzeval, Edda, Nibelungen
Kosmogonien Von Dante bis zur Mystik und Sdiolastik
SOMMER
Reifende Bewußtheit, Städtisch-bürgerliche und kritische Regungen.
Dionysosreligion, Orphik Protestantismus
Vorsokratik Galilei, Deskartes bis Leibniz
Pythagoreer Math. Analysis, Newton, Jansenisten, Puritaner
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